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Erfolg der Lastwagen-Lobby: Kurze Haube, großes Risiko

Foto: transportenvironment.org

Erfolg der Lastwagen-Lobby EU-Verkehrsminister verbieten sichere Lkw-Kabinen

Hunderte Unfalltote könnten vermieden werden, wenn die EU endlich die Modernisierung der Fahrerhäuser beschließen würde. Aber die Mitgliedstaaten schieben die Reform auf die lange Bank. Dahinter stecken fragwürdige Interessen.

"Die heutigen Lkw-Kabinen sind ein Sicherheitsrisiko für alle Verkehrsteilnehmer", sagt Jürgen Bente. Seit Jahren hört der Lkw-Experte des Deutschen Verkehrssicherheitsrats die Klagen der Trucker über die überalterten, würfelförmigen Fahrerhäuser. Sie dürfen laut EU-Vorschriften höchstens 2,35 Meter lang sein, bieten dem Lenker kaum Platz zum Übernachten und vor allem wenig Knautschzonen bei einem Unfall. Das Sichtfeld ist beschränkt, und auch ihre Aerodynamik ist mangelhaft. Kurzum: "Wir brauchen schnellstmöglich bessere Kabinen", sagt Bente. Aber die Verkehrsminister der EU-Mitgliedstaaten sperren sich dagegen.

Vergangenen Donnerstag haben die Minister auf ihrem Treffen in Luxemburg vereinbart, die Reform der Kabinen um acht Jahre zu verschieben. Frühestens 2022 sollen die Prototypen, die einige Hersteller bereits konzipiert haben, auf Europas Straßen fahren. Bis dahin sind sie verboten. Dabei bieten diese modernen Kabinen mit ihrer abgerundeten Front dem Trucker nicht nur mehr Platz zum Ausruhen, sie sind auch windschnittiger und sparen deswegen Sprit. Vor allem aber können sie Leben retten. Weil sie mit ihren großen Fenstern dem Lenker mehr Aussicht auf das Verkehrsgeschehen unter und neben ihnen eröffnen, tote Winkel verringern - und beim Aufprall bis zu anderthalb Meter zusätzliche Knautschzone bieten.

Mehr als 4000 Menschen sterben jährlich EU-weit bei Unfällen mit Lkw-Beteiligung. Zwischen 300 und 500 Tote könnten laut EU-Verkehrskommissar Siim Kallas durch die Umgestaltung der Fahrerhäuser vermieden werden. Das Europaparlament hat sich im April mit den Stimmen aller großen Fraktionen dafür ausgesprochen, die modernen Kabinen schnellstmöglich zu erlauben - und von 2022 an am besten sogar verpflichtend für alle Neufahrzeuge zu machen. Doch einige nationale Regierungen kämpfen gegen diese Reform: allen voran Schweden und Frankreich, die Heimatländer der Hersteller Volvo, Scania, Renault und Peugeot. Sie haben sich im Ministerrat durchgesetzt - gegen Deutschland und andere Staaten, die eine schnelle Einführung befürworten.

Neue Trucks von Scania und Renault mit alten Kabinen

Die technischen Details des neuen Regelpakets seien vage formuliert, begründet Schwedens Infrastrukturministerin Catharina Elmsäter-Svärd gegenüber Sveriges Radio ihren Widerstand gegen die Reform. Tatsächlich dürften hinter dem achtjährigen Modernisierungs-Moratorium die nationalen Lkw-Lobbys stecken. "Hier werden die Interessen einiger weniger Produzenten über die aller anderen Beteiligten gestellt", sagt Willliam Todts von der Brüsseler Umweltorganisation Transport and Environment. 

Denn sowohl Scania aus Schweden wie auch der französische Hersteller Renault Trucks, eine Tochter der Volvo-Gruppe, haben gerade erst neue Lkw-Modelle auf den Markt gebracht - mit den althergebrachten Kabinen. Diese wollen sie während des gesamten Produktlebenszyklus möglichst unverändert bauen. Die Anforderungen seien komplex, und ihre Umsetzung brauche Zeit, sagt eine Sprecherin von Volvo Trucks auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE.

"Diese Entscheidung war reine Industriepolitik", sagt indes ein Rats-Insider. "Die Schweden und Franzosen haben ursprünglich auf eine noch längere Übergangsfrist gedrängt, um ihre Hersteller gegen den Wettbewerb zu schützen." Der deutsche Lkw-Bauer MAN hatte bereits vor Längerem einen Prototypen mit neuem Frontdesign vorgestellt - und könnte wohl viel früher die Serienproduktion aufnehmen. MAN verweigerte gegenüber SPIEGEL ONLINE jeden Kommentar und verweist auf den Dachverband ACEA. Der begrüßt die Verzögerung und weist auf die lange Vorlaufzeit von Entwicklungen im Lkw-Bereich hin.

Dutzende Menschen werden in überalterten Lkw-Kabinen sterben

Umso entrüsteter zeigen sich die EU-Politiker. "Die Minister haben eine sehr industriefreundliche Entscheidung getroffen", kritisiert Markus Ferber, Verkehrsexperte der CSU im Europaparlament. "Statt auf Sicherheit und Umwelt zu achten, haben sie den Zeitplan an die Produktionszyklen von Renault, Peugeot und Volvo angepasst." Der SPD-Mann Ismail Ergut nennt die Verzögerung "schier verantwortungslos": "Ein größeres Sichtfeld verkleinert den toten Winkel des Fahrers und senkt das Unfallrisiko bei Abbiegevorgängen erheblich." Und auch Verkehrskommissar Kallas ist enttäuscht: "Es gibt keinen Grund, die Gesellschaft fast ein Jahrzehnt lang auf sauberere und sicherere Lastwagen warten zu lassen. Ich hoffe, dass wir mit der Hilfe des Europaparlaments jede Verzögerung beseitigen."

Theoretisch könnten sich die Unterhändler des Parlaments gegen den Beschluss der Minister stellen: ihnen abringen, die neuen Kabinen früher zu erlauben. Aber das geht nur mit einer stabilen Mehrheit der Abgeordneten. Die ist ungewiss. Denn bei der Europawahl sind die großen Fraktionen geschrumpft; Christdemokraten und Sozialisten kommen zusammen nur auf 411 der 756 Sitze. "Wenn uns die französischen und schwedischen Abgeordneten in den Rücken fallen, weiß ich nicht, ob wir eine Mehrheit hinkriegen", sagt CSU-Mann Ferber. So oder so wird es Monate dauern, bis das Parlament arbeitsfähig ist und eine Position gefunden hat. Währenddessen werden Dutzende Menschen sterben: in und vor überalterten Lkw-Kabinen.