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Kampf gegen Lehrlingsmangel Regierung will mehr Abiturienten arbeiten sehen

Abiturienten in die Betriebe! Die Bundesregierung fürchtet den Lehrlingsmangel und will in Schulen stärker für Lehrberufe werben. Eine überraschende Kehrtwende, denn bislang wurden mit Milliardensummen immer mehr Studienplätze geschaffen.
Mangelberuf: Im Fleischerei-Handwerk blieb 2012 jede vierte Lehrstelle unbesetzt

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Foto: Waltraud Grubitzsch/ picture alliance / dpa

Studenten, überall Studenten: 2,5 Millionen von ihnen lernen mittlerweile in deutschen Hörsälen und Bibliotheken. Mehr als jeder Zweite eines Jahrgangs schlägt eine akademische Ausbildung ein. Jahr für Jahr drängen rund eine halbe Million Erstsemester in die Unis und Fachhochschulen.

Das Studium in Deutschland boomt, und das sollte Bildungspolitiker eigentlich freuen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Im Einklang mit Wirtschafts- und Professorenvertretern warnen auch Bildungsminister derzeit immer öfter vor zu viel Akademisierung. Ihre Sorge: Der Run auf Abitur und Hochschulen könnte den Lehrstellenmarkt ausbluten lassen. Die berufliche Bildung, ein Aushängeschild der deutschen Bildungslandschaft, sehen die Mahner akut bedroht.

Tatsächlich sprechen die Zahlen der neu geschlossenen Ausbildungsverträge dafür, dass die berufliche Bildung ins Hintertreffen gerät: 2013 unterschrieben Firmen und Azubis nur noch 530.000 Neuverträge, ein Minus von mehr als 20.000 im Vergleich zum Vorjahr und ein historisches Tief.

Nun gibt sich die Politik wild entschlossen, daran etwas zu ändern. Soll sich in der Bildungspolitik etwas bewegen, rufen die zuständigen Minister gerne den Wissenschaftsrat (WR) an. In dem Beratungsgremium erarbeiten Vertreter der Wissenschaftsorganisationen und der Politik Empfehlungen. Meist geht es dabei um Forschungs- und Hochschulpolitik, doch jetzt hat der Wissenschaftsrat sich auch auf das Feld der Schulpolitik gewagt.

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Zusammengefasst lautet der Rat: Schülern soll in einer "systematischen Studien- und Berufsorientierung (…) berufliche und akademische Bildung" in allen Schulformen gleichberechtigt vorgestellt werden. WR-Vorsitzender Wolfgang Marquardt sagt, eine Entscheidung zwischen Studium Lehre werde heute zu sehr auf "Vorurteile oder vordergründige Image- oder Prestige-Gesichtspunkte gestützt". Anders gesagt: Weil die Lehre einen schlechten Ruf hat, setzen zu viele junge Leute nur aus Imagegründen auf eine Hochschule. Dafür empfiehlt der WR eine Imagekampagne für Lehrberufe und ein neues Schulfach: Berufsorientierung.

Sie bekämpfen die Geister, die sie riefen

Die Sorge um den Lehrstellenmarkt ist verständlich. Sehr sonderbar aber ist die Vehemenz, mit der die Politik nun eine Umkehr einleiten will. Denn die Bildungspolitiker bekämpfen eine Entwicklung, die sie bis vor kurzem noch selbst energisch selbst forcierten.

Vor nicht einmal drei Jahren empfahl die damalige Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU): "Klar ist, dass wir mehr akademisch Ausgebildete brauchen." Die niedrige Akademikerquote "schreit nach Korrekturen der Bildungspolitik", sagte der damalige Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Ernst Dieter Rossmann. Grüne und FDP pflichteten bei.

Zwar hatten auch doppelte Abiturjahrgänge einen gehörigen Anteil am Akademisierungsschub, doch vor allem war das Anschwellen der Studentenflut politisch gewollt. Mit Milliardenpaketen pumpten Bund und Länder die Studienplatzkapazitäten auf. Billige Hochschulen für angewandte Wissenschaften wurden aus- und teils völlig neu gebaut. Und Jahr für Jahr wiederholten Bildungspolitiker ihr Mantra von der sozialen Absicherung durch ein Studium: Wer studiert, wird nicht arbeitslos. Das viele junge Absolventen prekär leben und nur befristet angestellt arbeiten, unterschlug man lieber.

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Jetzt also soll es wieder in die andere Richtung gehen. Schavans Amtsnachfolgerin Johanna Wanka (CDU) will mit aller Macht die duale Berufsausbildung stärken. Studenten in übervollen Hörsälen interessieren die Ministerin derzeit nicht. Die Zahl der Studienabbrecher ist zwar auch in Bachelor- und Master-Studiengängen noch immer skandalös hoch. Doch Wankas Einfall dazu lautet: Studienabbrecher sollen eine Lehre beginnen. Eine Imagekampagne "Chance Beruf" soll außerdem bei Schülern für die Berufsausbildung werben. Der Wissenschaftsrat hat nun in ein Konzept gegossen, was Wanka bereits als Ziel formuliert hat.

Das Paradoxe am Versuch, Schüler der Mittelstufe auf mehr Lehre einzuschwören: Zwar bleiben in unattraktiveren Lehrberufen tatsächlich Zehntausende Lehrstellen unbesetzt. Zugleich jedoch verlassen mehr als 200.000 Jugendliche die Schule direkt in Richtung weiterbildender Maßnahmen.

Im sogenannten Übergangssystem finden sich heute nicht nur Schulversager, auch immer mehr Absolventen von Haupt- und Realschulen. Sie werden als Auszubildende in den Arbeitsmarktstatistiken geführt, doch in Wahrheit lernen sie nur, sich zu bewerben, um später vielleicht im Lehrstellenmarkt Fuß zu fassen.

Das Potential dieser Aufgegebenen zu erschließen, könnte eine gute Möglichkeit sein, mehr Lehrlinge zu finden. Doch wichtiger scheint es derzeit, angehenden Abiturienten zu erklären, wie attraktiv ein Lehrberuf sein kann.

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