Die Stadt Herrenberg lässt von dem Historiker Marcel vom Lehn die Zeit des Dritten Reichs aufarbeiten. Dazu sichtet er die Archivalien unter anderem im Stadtarchiv und befragt Zeitzeugen. Seine Forschungsergebnisse sollen 2017 vorliegen.

Herrenberg - Das Dritte Reich gehört zu den besterforschten Kapiteln deutscher Geschichte – nur nicht in Herrenberg. Diese Lücke soll nun der promovierte Historiker Marcel vom Lehn schließen, der die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft, die Jahre bis zur Machtübernahme der Nazis und die ersten Nachkriegsjahre untersuchen soll. Der Auftrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit geht auf einen Antrag der SPD-Gemeinderatsfraktion zurück. Die Stadtverwaltung und die anderen Fraktionen griffen ihn auf und stellten am Ende fast 58 000 Euro für das Projekt zur Verfügung. Marcel vom Lehn hat zwei Jahre Zeit, das Kapitel der Herrenberger Stadtgeschichte zu erforschen, mit Zeitzeugen zu sprechen und seine Erkenntnisse zu Papier zu bringen.

 

Für die Interviews von Zeitzeugen wird es höchste Zeit. Die fünf, die sich bereits beim Herrenberger Stadtarchiv gemeldet haben, um sich von Marcel vom Lehn befragen zu lassen, sind hochbetagt. Der Älteste sei älter als 90 Jahre, sagt der Historiker. Neben den Interviews sichtet der 37-Jährige auch den für den Untersuchungszeitraum relevanten Aktenbestand im Herrenberger Stadtarchiv. „Der Bestand ist umfangreich, aber lückenhaft“, sagt Marcel vom Lehn. Es gebe Gerüchte, dass am Kriegsende Akten weggeschafft worden seien, erklärt die Stadtarchivarin Stefanie Albus-Kötz. Drei Blätter fanden sich in den Herrenberger Archivalien beispielsweise zur Zwangssterilisation von Behinderten im Zuge des Euthanasie-Programms der Nationalsozialisten, allerdings nichts zur Ermordung von Behinderten. „Das ist ungewöhnlich, es müsste mehr geben“, sagt Marcel vom Lehn.

Die spezielle Entwicklung in Herrenberg herausarbeiten

Deshalb wird sich der Historiker bei seiner Forschungsarbeit nicht nur auf den Bestand des Stadtarchivs stützen, sondern in anderen wie etwa dem Kreisarchiv Böblingen, dem Staatsarchiv Ludwigsburg, dem Dokumentationszentrum in Grafeneck auf der Schwäbischen Alb und dem Bundesarchiv in Berlin seine Recherchen vervollständigen. Dabei konzentriert er sich auf spezielle Fragen wie etwa der nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Herrenberg. Oder der nach der Gleichschaltung der Parteien und des gesellschaftlichen Lebens oder jener nach wichtigen lokalen Akteuren. Es gehe es darum, sagt vom Lehn, die spezielle Entwicklung in Herrenberg herauszuarbeiten. Er denkt dabei weniger an ein durchschlagendes Ereignis, als vielmehr an viele Informationen, die am Ende zu einem Puzzle zusammengesetzt würden.

Bei der akribischen Arbeit hilft ihm ein wichtiger Fund: eine Liste der Mitglieder der NSDAP, in die die Amerikaner nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs feinsäuberlich jeden Herrenberger, der älter als 14 Jahre alt war, eingetragen haben. Darin sind sowohl der Zeitpunkt des Parteieintritts vermerkt als auch welche Funktion ein jeder in der Partei hatte. Das mächtige Buch mit den vergilbten Seiten „ist ganz wichtig“ als Ansatzpunkt für die weitere Recherche, betont Marcel vom Lehn.

Für seine Forschungsarbeit hat ihm eine Familie einen relativ großer Bestand an Briefen aus dem Zweiten Weltkrieg, Fotos und Zeitungsausschnitte angeboten. Die Stadt hatte im Frühjahr Zeitzeugen dazu aufgerufen, sich für das Projekt als Gesprächspartner zur Verfügung zu stellen, und Bürger aufgefordert, die noch Unterlagen ihrer Familie aus jener Zeit zu Hause aufbewahren, zur Verfügung zu stellen. Auf weitere solcher Angebote hofft Marcel vom Lehm. Denn durch persönliche Dokumente werde Geschichte sehr viel berührender, sagt der Historiker mit Wohnsitz in Berlin.

Ergebnisse werden im Jahr 2017 publiziert

Gegen 125 Konkurrenten hat sich der 37-Jährige mit seiner Bewerbung für das Herrenberger Projekt durchgesetzt. Mittlere und Neuere Geschichte, Volkswirtschaftslehre und Philosophie hat er in Mainz und Florenz studiert, über westdeutsche und italienische Historiker im Umgang mit dem Faschismus und Nationalsozialismus in Massenmedien hat er promoviert. Bevor er sich selbstständig machte, war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena.

Für sein zurzeit wichtigstes Projekt kommt vom Lehn immer wieder nach Herrenberg. An dem Auftrag reize ihn, dass er seine „bisherigen Forschungsinteressen mit Stadtgeschichte“ kombinieren könne. Was er über Herrenberg in der Zeit der 1920er bis in die 1950er Jahre herausfindet, gibt es im Laufe des Jahres 2017 zu lesen.