AboZeichen aus der Parallelwelt
Einst galt Reto Andrea Savoldelli als Filmhoffnung. Dann tauchte der Solothurner in die Schriften Rudolf Steiners ab und schrieb einen Reinkarnations-Roman. Der ist nun erschienen – nach 40 Jahren.
Savoldelli machte der Welt grosse Hoffnungen, bevor er ihr abhandenkam. Wim Wenders zum Beispiel war ganz entzückt von seinem Kurzfilm «Lydia» und fand «unglaublich schöne Momente» in diesem Streifen, der vom Stadtausflug eines Hippies handelt. Die englische Fachzeitschrift «Cinemantics» bezeichnete Savoldelli als «Poeten auf dem Gebiet des Kinos». Auch der «Blick» lobte ihn: Für ihn war «Lydia» 1969 «der vielversprechendste Film der Solothurner Filmtage». Savoldelli, Sohn italienischer Migranten, geboren in Solothurn und aufgezogen von Erzieherinnen des dortigen katholischen Seraphischen Liebeswerks, war damals 19 Jahre alt. Er hatte noch nicht einmal das Gymnasium abgeschlossen.
Drei Jahre später folgte sein Spielfilm «Stella da Falla». Dieser handelt von der Zeitreise eines Jünglings durchs Mittelalter in die Gegenwart. Der Film wurde an den Festspielen in Locarno gezeigt, was Savoldelli Gelegenheit gab, sich mit Andrei Tarkowski auszutauschen, der gerade «Solaris» gedreht hatte und als Jurypräsident amtierte. Doch dann das abrupte Ende: Savoldelli bekam kein Fördergeld mehr. Sein Herzensanliegen, der Film «Hieronymus», wurde abgelehnt. «Wirr» sei dieses Projekt und seine «Absicht letztlich kaum nachzuvollziehen», erklärte die zuständige Behörde. «Stella da Falla» blieb Savoldellis letzter Film.
Ein Wälzer und eine Pelzmütze
40 Jahre später sitzt Savoldelli in einem Atelier beim Basler Barfüsserplatz. Die Räume gehören einem befreundeten Bildhauer, sie sind voll mit Büsten klassischer Musiker und Skulpturen antiker Mythen. Savoldelli erinnert in seiner selbstsicheren Abgewetztheit an den Berner Liedermacher Endo Anaconda. Ins Gespräch streut der Pensionierte, der sein Geld als Sekundarlehrer verdient hat, beiläufig Zitate von Wittgenstein und Pasolini. Vor ihm auf dem Tisch liegt seine imposante Pelzmütze, daneben ein nicht minder imposanter 500-Seiten-Wälzer.
Seit einigen Wochen ist das Buch im Handel, nur 300 Stück hat Savoldelli bisher verkauft. Es heisst «Hieronymus», wie der nie realisierte Film, und sein Untertitel lässt erahnen, dass die Lektüre nicht einfach wird: «Über Kino und Liebe in Zeiten der Reinkarnation». Ursprünglich wollte Savoldelli mit dem Roman sein gescheitertes Filmprojekt doch noch irgendwie realisieren. Das Vertrauen in seinen Stoff war derart gross, dass der Regisseur und Drehbuchautor vom Film in die weniger finanzbedürftige Literatur auswich – worauf der vorgesehene Rahmen des Buches schon bald gesprengt wurde. «Das hier ist mein erster und einziger Roman», betont der 63-Jährige.
Es wimmelt von Floskeln
«Hieronymus» erzählt die Geschichte des Filmemachers Hieronymus Halbeisen. Anfänglich nur wenig ambitioniert, beschäftigt sich dieser mit der Restauration seiner alten Streifen und mit Filmtheorien. In gewisser Hinsicht ist er ein Alter Ego Savoldellis, wie dieser liebt er das Autorenkino der 70er-Jahre. Halbeisen wird langsam mithilfe eines Engels und eines mystisch versierten Arztes namens Attila Haug an das Projekt seines Lebens herangeführt: die Verfilmung von «Prä-Inkarnationen» – der Biografien von Menschen, die er und seine Freundin und Berufskollegin Isabelle Montclaire im Südfrankreich des 12. Jahrhunderts angetroffen hatten.
Es fällt schon aus sprachlichen Gründen schwer, «Hieronymus» ein gutes Buch zu nennen. Denn es wimmelt von Floskeln: Der Professor «kennt seine Pappenheimer», der Manager ist «aalglatt». Bisweilen kippt die Nachlässigkeit in Nonsens: «Seine Kinder blieben auch nach Papas Sturz auf veritablen Rosen gebettet.» Oder: «Die wie ein Blitz sich bildende Vorstellung, heute zurückzufahren, bekräftigt er mit zustimmendem Gefühl.» Der bemüht klingende Slang der mit Halbeisen befreundeten Filmstudenten und der saloppe Ton von Montclaire strapazieren die Nerven.
Die Figuren bleiben wegen der Theorielastigkeit des Stoffs schablonenhaft und emotional unverbindlich. Und wenn der Autor Bewegungen und Umgebungen beschreibt, macht sich die Detailversessenheit des früheren Drehbuchschreibers auf unschöne Weise bemerkbar. Auch finden sich im Buch noch Druck- und Orthografiefehler, obwohl Savoldelli das Manuskript schon 2009 abgeschlossen, unter ausgewählten Lesern verteilt und seither mehrmals redigiert hat.
Wie die Texte der Kosmiker um 1900
Und doch fasziniert «Hieronymus» auf sonderbare Weise – so wie mittelalterliche Zaubersprüche oder die Texte der Kosmiker um 1900 faszinieren. Das liegt am merkwürdigen Licht der Anthroposophie, das durch die staubige Linse des Autorenfilm-Diskurses auf den Text fällt. Dass Rudolf Steiner diesen Roman inspirierte, ist dabei alles andere als verwunderlich. Denn Reto Andrea Savoldelli wandte sich nach dem Scheitern seines Filmprojekts voll und ganz der Anthroposophie zu.
1973 begann er in Dornach ein Studium der anthroposophischen Gesellschaftsgeschichte und eine EurythmieAusbildung. Im Goetheanum, der anthroposophischen Hochburg, lernte Savoldelli, nach den Lehren Rudolf Steiners zu denken und zu tanzen. Später veröffentlichte er Artikel zur Eurythmie in verschiedenen anthroposophischen Magazinen; auch «Hieronymus» ist in einem anthroposophischen Verlag erschienen.
Ende der 70er-Jahre stieg Savoldelli am Goetheanum zum Mitarbeiter von Herbert Witzenmann (1905–1988) auf, einem besonders kompromisslosen Steiner-Jünger. Tage, Wochen und Monate verbrachte Savoldelli mit dem Studium der Schriften Steiners. Heute habe er sie alle gelesen, sagt er. In einen «einzigartigen geistigen Höhenflug» versetzt habe es ihn, als er 1983 auf eine Notiz eines Steiner-Gefährten gestossen sei: Diese besage, dass Steiner «den Film für ein geeignetes Medium gehalten habe, um die Gesetze des Schicksals im Lauf der wiederholten Inkarnation aufzuzeigen».
«Aufwecker des Geisteslebens»
Savoldellis Roman ist letztlich der Versuch, diese These zu verdeutlichen, und so lässt der Autor seinen Helden das Reinkarnationsmodell Steiners in längeren essayistischen Monologen ergründen. Savoldelli möchte, dass der Leser während der Lektüre Halbeisens Erkenntnisprozess nachvollzieht. Er orientiert sich an der Vorgabe Steiners, der in seiner Autobiografie «Mein Lebensgang» (1925) festhielt, dass «ein richtig verfasstes anthroposophisches Buch ein Aufwecker des Geisteslebens im Leser sein soll».
Selbstverständlich ist es schliesslich eine Steiner-Lektüre, die Halbeisen zur Erkenntnis seines wahren Ichs bringt und für die Verwirklichung seines Filmprojekts frei macht. Er vertieft sich danach in Steiners Meditationen: «Es tritt bewusst mein Ich. Aus dem Reich der Daseinhüllen. Zu ruhen in den Welten Wesen. Ins Göttliche strebet es.» Er gerät in Trance, vergegenwärtigt sich, «wie er des Morgens ein noch traumhaft sphärisches ‹Ich› in und um sich wahrnahm».
Inkarnation des Eschenbach?
Unglaublich fern wirken diese Passagen. Und doch sind sie Ausdruck einer Ideologie, die heute in den Alltag und zumal in viele Zimmer der Rudolf-Steiner-Schulen ausstrahlt. «Hieronymus» ist ein Dokument aus der sehr lebendigen Parallelwelt der Anthroposophie.
Ganz zu Ende des Romans kommt es zu einer spektakulären Enthüllung: Attila Haug gibt zu, dass auch sein Geist im Mittelalter reinkarniert worden sei, und zwar in niemand Geringerem als Wolfram von Eschenbach (1160/80–1220), dem Autor des «Parsifal». Schon wieder Parsifal also, an den sich Filmkritiker ja schon bei der Betrachtung von «Lydia» und «Stella da Falla» erinnert fühlten. Könnte es gar sein, dass der Autor sich nun, nach jahrzehntelanger Vertiefung in Steiners Karma-Lehre, selber als Inkarnation Wolframs versteht? Filmemacher Savoldelli, der Rudolf Steiner einen Roman, aber keinen einzigen Film verdankt, verneint es nicht.
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