Wer ist wir? Wir ist jeder, wir ist keiner. Für mich ist das Wir meistens eine schlechte Ausgangsposition. Es klingt nach Verallgemeinerungen, Skandalisierungen und Undifferenziertheit. Nun aber sind die Attentate in Paris geschehen. Ereignisse, Medienberichte und Erkenntnisse überholen sich schneller als sonst, und wie häufig nach so schrecklichen, überfordernden Geschehnissen vermischen sich reflexhaft Anteilnahme, Argwohn und Ahnungslosigkeit mit eilig gelesenen Überschriften zu einem diffusen Gemeinschaftsgefühl, das ein Wir für mich in diesem Fall notwendig macht.

 Weil ich diesen Satz schreiben will: Wir haben keine Angst.

Wir, das ist die Generation Y. Wir, die Babys der späten Achtziger und frühen Neunziger. Wir, die Wendekinder, die nur ein Deutschland kennen und sich mittags nach der Schule wunderten, wenn Katja Burkard im Mittagsjournal Punkt 12 verschiedene Statistiken für West- und Ostdeutschland vortrug. In deren Grundschulklassen immer Kinder saßen, die mindestens noch eine andere Sprache sprechen konnten – Russisch, Türkisch, Arabisch – und bei denen es zu Hause leckere, klebrige Süßigkeiten gab. Wir, für die der Terror selbstverständlich zum Leben dazu gehört. Weil wir gerade anfingen, uns für Politik zu interessieren oder die Unterlagen für einen Schüleraustausch nach Amerika zusammensuchten, als die Flugzeuge in das World Trade Center flogen. An diesem Tag durften wir ausnahmsweise länger fernsehen und verloren unsere politische Unschuld, als wir zusahen, wie Menschen vom Himmel fielen und andere aus den Trümmerwolken Richtung Leben liefen.

Damals hatten wir Angst, vielleicht sogar Panik. Weil wir das Gefühl hatten, wenn so etwas in den USA passiert, im Land unserer Teenager-Träume, dann kann das auch hier passieren. Wir sind trotzdem ins Ausland gegangen, haben an Austauschprogrammen teilgenommen und Freundschaften fürs Leben geschlossen. Der 11. September 2001 ist 14 Jahre her. Seither ist viel passiert: die amerikanischen Invasionen in Afghanistan und im Irak, der War on terror, die Attentate in Madrid und London, der Anschlag auf Utøya, die Morde des NSU, der Angriff auf die Redaktion von Charlie Hebdo und viele Kriege und Terrorakte mehr. Wir haben in dieser Zeit gelernt, zu differenzieren. Zwischen der Instrumentalisierung von Opfern durch die Politik für eigene Zwecke oder durch einzelne Parteien. Zwischen dem Islam und Islamismus. Zwischen begründeter Vorsicht und Paranoia. Wir haben gelernt, dass der Terror auch von rechts oder aus dem Inneren unserer Gesellschaft kommen kann. Und wir haben gelernt, mit der Angst zu leben.

Das Fremde ist für uns keine Bedrohung, sondern ein Versprechen. Wir reisen um die Welt, lernen Hebräisch, Arabisch, Russisch und Türkisch, kochen nach Yotam Ottolenghi und tanzen zu Balkan Beats. Wir sind neugierig. Wir wollen uns wundern. Und wir haben uns das Fremde längst angeeignet.

Wir fliegen nach Beirut und lernen dort in einer syrischen Bar in Achrafieh Alina kennen, die halb syrischer und halb russischer Herkunft ist und genauso tickt wie wir: selbst gedrehte Zigaretten raucht, zu viel auf Instagram abhängt und am liebsten Gin Tonic trinkt. Dasselbe erleben wir in Marrakesch oder Tel Aviv, in Tokio oder Kapstadt. Was nicht heißt, dass wir keinen Sinn für die kulturellen, politischen und sozialen Unterschiede haben, die uns voneinander trennen.  

Zwischen Spice Girls und Mekka

Wir wissen so viel übereinander wie keine Generation vor uns. Was der Unterschied zwischen Sunniten, Schiiten und Alawiten ist und wann welcher Staat der westlichen Welt mit welchem Autokraten paktiert hat, um die Festung Europa abzuriegeln oder Öllieferungen zu sichern. Vor allem wissen wir, dass der Terror keine Frage von Nation oder Religion ist. Und dass man außenpolitische Fragen manchmal von außen betrachten muss. Mit den Augen eines syrischen Vaters oder einer bosnischen Mutter, einfach, weil sie mehr gesehen haben. 

All das haben wir den vielen zweisprachigen Kindern von damals zu verdanken. Für meine Generation war Deutschland schon immer ein Einwandererland. Siebenjährigen ist es egal, ob sie auf dem Boden oder auf dem Sofa sitzen, wenn sie Trickfilme gucken. Oder ob die Hackbällchen nun Tsukune, Kufta, Kötbullar oder Bitotschkie heißen. Diese Mädchen und Jungen, die damals mit uns den Tod des Königs der Löwen Mufasa beweinten, sind auch heute unsere Freunde, Partner, Kollegen. Sie haben mit uns zu den Spice Girls getanzt und uns erklärt, warum ihre Mutter nach Mekka pilgert, aber kein Kopftuch trägt. Sie haben uns offener gemacht. Für die Staaten, aus denen sie kommen, die Situation ihrer Landsleute und die Sorgen verschiedener Generationen von Einwanderern. Von ihnen wissen wir, wie es ist, in zwei Kulturen groß zu werden. Draußen Deutschland. Drinnen Afghanistan. Welcher Druck auf ihnen lastet, weil ihre Eltern alles hinter sich gelassen haben, damit ihre Kinder in Frieden aufwachsen können. Wie ätzend es ist, jedes Mal gefragt zu werden, woher man denn nun wirklich komme, nur weil man dunklere Haut oder schwarze Haare hat.

Mit ihnen schauen wir Homeland, finden es spannend und ärgern uns gemeinsam über die Darstellung der arabischen Welt als Ort düsterer Machenschaften. Wir lesen gleichzeitig die Bücher von Olga Grjasnowa, Kat Kaufmann, Chimamanda Adichie Ngozie oder Dima Wannous und gleichen sie erst mit den Erfahrungen ihrer Eltern und dann mit den Erfahrungen unserer gemeinsamen Generation ab. Wir lachen über Bushido, essen Pho im Lokal ihrer Großtante und lassen uns von ihren Brüdern das Kreuzband operieren.

Wir müssen nicht erst zusammenwachsen. Wir sind es schon.