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Henrik Müller

Extreme Niedrigzinsen Wer spart, ist der Dumme

Kein vergleichbares Land auf dem Globus geht so konservativ mit Geld um wie Deutschland. Ein solider Fels inmitten einer unsoliden Welt von Schuldenmachern. Kann das gut gehen?
Banken in Frankfurt am Main

Banken in Frankfurt am Main

Foto: Max Rumpenhorst/ dpa

Eigentlich machen die Deutschen alles richtig. Die Bürger sparen: Unbeeindruckt von den extrem niedrigen Zinsen legen sie im Schnitt zehn Prozent ihres Einkommens auf die hohe Kante.

Natürlich ist es vernünftig, für die Zukunft vorzusorgen. Wer ein langes Leben vor sich hat, sollte Geld zurücklegen. Alternde Nationen sollten sich ein finanzielles Polster für künftige magere Jahrzehnte zulegen und möglichst keine Schulden anhäufen, damit sie kommende Generationen nicht noch zusätzlich belasten.

Und so macht auch der deutsche Staat keine zusätzlichen Schulden, sondern fährt Überschüsse ein: Die öffentlichen Verbindlichkeiten dürften kommendes Jahr in etwa wieder das Vorkrisenniveau erreichen.

Eine enorme Leistung. Kein anderes vergleichbares Land auf dem Globus geht so konservativ mit Geld um.

Im Gegenteil: Die Weltwirtschaft insgesamt ist nach wie vor gefangen in einer Schuldenspirale. Fast 140 Billionen Dollar betragen die globalen Verbindlichkeiten von Staaten, Unternehmen und Bürgern derzeit, ein Drittel mehr als 2007, hat die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) ausgerechnet.

Nicht nur die allermeisten wohlhabenden Länder des Westens geben mehr Geld aus, als sie haben. Seit einigen Jahren folgen auch Schwellenländer, insbesondere China, demselben Weg. Sogar Ölexporteure wie Saudi-Arabien treiben inzwischen die Verschuldung nach oben.

So könne das auf keinen Fall ewig weitergehen, mahnt die BIZ. Setzt sich der Schuldenaufbau fort, schlittert die Welt in die kollektive Pleite. Würden die Notenbanken rund um den Globus die Zinsen nicht künstlich niedrig halten, wäre die Lage vermutlich längst prekär.

Nur Deutschland - es ist die rare Ausnahme. Ein solider Fels inmitten einer unsoliden Welt. So jedenfalls ist unser Selbstbild.

Aber ist diese Strategie eigentlich in unserem eigenen Interesse? Ist am Ende nicht derjenige, der spart, der Dumme?

Wo das Geld hinfließt

Ein paar Fakten: Die Bundesrepublik ist inzwischen eine der größten Geldverleihernationen. Voriges Jahr flossen aus Deutschland netto 232 Milliarden Euro in den Rest der Welt, so die Bundesbank. Der größte Teil davon wurde in Wertpapiere gesteckt, überwiegend in Anleihen, zunehmend aber auch in Aktien.

Auch deutsche Unternehmen investieren eine Menge im Ausland. 98 Milliarden waren es voriges Jahr, mehr als doppelt so viel, wie ausländische Unternehmen hierzulande investierten. Heimische Konzerne liehen ihren Töchtern in aller Welt 28,5 Milliarden, neun Milliarden mehr als 2014.

2015 war kein Ausnahmejahr. So geht das seit anderthalb Jahrzehnten. Deutschland erwirtschaftet ständig mehr Geld, als im Inland ausgegeben wird. Die Überschüsse werden im Ausland investiert. So hat sich seit Anfang der Nullerjahre ein gigantisches Vermögen aufgebaut. Netto verfügt Deutschland derzeit über Forderungen von 1,5 Billionen Euro, mehr als 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Die Schulden der anderen

Man muss bezweifeln, dass dieses Geld gut angelegt ist. Denn das deutsche Auslandsvermögen besteht letztlich aus den Verbindlichkeiten der anderen. Wenn am Ende überschuldete Staaten und Unternehmen ihre Schulden nicht vollständig zurückzahlen können, weil die Schuldner pleite sind, muss Deutschland Forderungen abschreiben. So einfach ist das. Derartige Verluste werden umso wahrscheinlicher, als die stark expansive Geldpolitik der Notenbanken die Kurse von Anleihen und Aktien stark in die Höhe getrieben hat.

Es geht um sehr große Summen. Zwischen 2001 und 2015 hat Deutschland Leistungsbilanzüberschüsse von aufsummiert zwei Billionen Euro eingefahren, insbesondere durch die hohen Exportüberschüsse. Das Auslandsvermögen beträgt aber lediglich 1,5 Billionen. 500 Milliarden Euro sind also verloren gegangen - 20 Prozent des BIP. Und niemanden störts.

Dass das Auslandsvermögen schlecht angelegt ist, hat vor einigen Jahren bereits das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) vorgerechnet. Den Analysen zufolge waren die Renditen deutscher Forderungen gegen das Ausland im Schnitt um einen Prozentpunkt niedriger als ausländische Forderungen an Deutschland.

Schrei vor Zorn!

Wenn deutsche Sparsamkeit und Lohnzurückhaltung Überschüsse produzieren, die zum Teil einfach verloren gehen, stellt sich schon die Frage, ob diese Strategie so weise ist. Eigentlich seltsam, dass dies keinen politischen Aufschrei auslöst.

In Deutschland selbst wird seit Langem zu wenig investiert. Löhne und Arbeitseinkommen sind lange Zeit stagniert, erst seit Kurzem steigen sie moderat. Das Resultat sind sehr hohe laufende Überschüsse von acht Prozent des BIP. Geld, das wiederum überwiegend in ausländischen Wertpapieren angelegt wird, deren Werthaltigkeit zweifelhaft ist - dies umso mehr, als Bewertungsverluste und Zahlungsausfälle in den kommenden Jahren zunehmen dürften angesichts der weltweit hohen Schuldenstände.

In einer instabilen Welt hohe Auslandsvermögen anzuhäufen, ist das Gegenteil von vernünftiger Zukunftsvorsorge. Besser wäre es, in die Infrastruktur in Deutschland und im übrigen Europa zu investieren: Bildung für alle, Integration von Zuwanderern, Spitzenforschung, saubere Energie, klimaneutraler Verkehr. Dinge eben, die ihren Wert behalten - auch wenn das globale Schuldenkartenhaus irgendwann zusammenbrechen sollte.

Zum Autor
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Institut für Journalistik, TU Dortmund

Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund, wo er spezialisierte Wirtschaftsjournalismus-Studiengänge leitet. Zuvor arbeitete der promovierte Volkswirt als Vizechefredakteur des manager magazins. Außerdem ist Müller Autor zahlreicher Bücher zu wirtschafts- und währungspolitischen Themen. Für den SPIEGEL gibt er jede Woche einen pointierten Ausblick auf die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der Woche.

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