Amazon will alles – und noch viel mehr
Geld und Wirtschaft

Amazon will alles – und noch viel mehr

Der Konzern verschickt Romane, Waschmaschinen und Schuhe – aber das reicht Amazon nicht. Der frühere Buchhändler dringt in immer neue Märkte vor und versetzt etablierte Firmen in Schrecken. Ein Überblick.

Profilbild von Peer Schader

Verschließbare Aschenbecher mit Einhorn-Motiv, Ansaugstutzen mit korrektem Flanschmaß, Hängematten für Meerschweinchen: Erklärtes Ziel des amerikanischen Online-Versandhändlers Amazon ist es, sämtliche Produkte anzubieten, die seinen Kunden in den Sinn kommen. Mit 488 Millionen Artikeln, die derzeit (in den USA) gekauft werden können, scheint der Konzern diesem Ziel schon ziemlich nahe gekommen zu sein. Damit’s nicht langweilig wird, hat Gründer Jeff Bezos deshalb noch einen ganzen Schwung anderer Ideen auf seinen Firmenwunschzettel gepackt. Amazon will nicht mehr länger nur Händler sein, sondern: alles und noch viel mehr.

Deshalb investiert das E-Commerce-Unternehmen Milliarden, um in Branchen vorzudringen, von denen nicht zu ahnen war, dass sie mal für den ehemaligen Online-Buchhändler interessant werden könnten. Wie geht das? Und was bedeutet das für den Wettbewerb?

Vor zwei Jahren hat Amazon seine frühere DVD-Versandvideothek Lovefilm in Deutschland zur Internet-Fernsehalternative mit dem scheußlichen Namen „Amazon Prime Instant Video“ umfunktioniert und kauft seitdem stetig Rechte für Filme und Serien dazu, um dem direkten Video-on-Demand-Konkurrenten Netflix die Kunden streitig zu machen. Wie Netflix investiert Amazon zunehmend in eigene Produktionen: In Deutschland dreht Matthias Schweighöfer fürs kommende Jahr die erste deutsche Amazon-Serie „Wanted“; außerdem kofinanziert Amazon Bully Herbigs neuen „Bullyparade“-Film, um ihn seinen Abonnenten schon kurz nachdem er im Kino gelaufen ist zu zeigen (noch bevor er auf DVD und ins klassische Fernsehen kommt).

Die großen Fernsehsender versichern, die Internet-TV-Dienste (von denen völlig unklar ist, wie viele Zuschauer sie wirklich haben) seien derzeit keine Konkurrenz für die klassischen Programme. Aber das kann sich schnell ändern. Vor allem die privaten Sender laufen Gefahr, dass ihre Zuschauer sich abgewöhnen, US-Serien mit Werbeunterbrechung zu schauen, anstatt auf Abruf (zum Beispiel) bei Amazon.

Gewinne? Vielleicht später

Darüber hinaus ist die Sendergruppe ProSiebenSat.1 seit ihrer Übernahme durch Finanzinvestoren vollständig darauf ausgerichtet, ihren Eigentümern hohe Jahresrenditen zu bescheren (und dem Chef einen schönen Jahresbonus). Diese Mittel werden – wie sich allzu deutlich zeigt – nicht mehr ins Programm investiert.

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Amazon denkt anders. „At Amazon we like things to work in five to seven years“, hat Jeff Bezos schon vor Jahren in „Wired“ erklärt. „We’re willing to plant seeds, let them grow – and we’re very stubborn.“ Anders gesagt: Amazon verschiebt das Geldverdienen auf später. Viel später. Nicht nur bei der Eroberung des TV-Markts. Obwohl das Unternehmen weltweit Milliarden umsetzt, fallen die Gewinne überschaubar aus – weil alles sofort in bestehende Services und den Aufbau neuer Geschäftsfelder investiert wird. Das macht Amazon als Angreifer in vielen Branchen so gefährlich. In der TV-Branche ist die Situation besonders kritisch, weil durch renditegetriebene Entwicklungen notwendige Investitionen in Inhalte vernachlässigt wurden. Noch dazu liefert Amazon die Hardware für den Empfang seiner Videodienste über seine Streaming-Box Fire TV (ähnlich wie für Bücher mit den Kindle-Geräten) gleich mit.

Seit Herbst des vergangenen Jahres liefert Amazon in München erstmals selbst Pakete an die Kunden aus. Dafür ist ein Lager in Stadtnähe gemietet, in dem die Bestellungen aus dem nahen Logistikzentrum an regionale Lieferpartner verteilt werden, die im Auftrag von Amazon fahren. „Wenn das gut läuft und unsere Kunden mit der Anlieferzeit und dem Service zufrieden sind, werden wir dies auch in anderen Städten ausrollen“, hat Bernd Schwenger, Geschäftsführer von Amazon Deutschland Transport, der Verkehrsrundschau gesagt.

Die Initiative ist vor allem für die Paketdienste DHL und Hermes, die bislang einen Großteil der Amazon-Lieferungen zustellen, kritisch – auch wenn DHL-Konzernchef Frank Appel bei der Bilanzpressekonferenz seines Unternehmens in Bonn gerade erklärt hat, er sehe die Initiative mit „sportlichem Ehrgeiz“ und man befinde sich weiterhin „in guten Gesprächen“ mit Amazon.

Auch Amazon ist darum bemüht, den Aufbau des eigenen Paketdiensts möglichst ungefährlich wirken zu lassen. Es gehe vor allem darum, mehr Kapazitäten für eine schnellere Zustellung zu schaffen, zum Beispiel die „Same-Day“-Belieferung, bei der Prime-Kunden ihre Produkte noch am selben Tag kostenlos nach Hause oder ins Büro gebracht bekommen. Einen entsprechenden Service hat Amazon im Herbst in 14 deutschen Regionen gestartet und wirbt aufwändig dafür („Heute bestellt. Heute da.“). Möglich ist das zunächst für einige tausend ausgesuchte Produkte.

Pakete abholen bei Wallace, Maya und Xavier

Aber selbst, wenn die Eigenbelieferung nur als Ergänzung gedacht ist und Amazon weiterhin mit DHL und Hermes zusammenarbeitet, wird das Konsequenzen für die Branche haben:

In Großbritannien liefert Amazon Pakete schon länger selbst aus, vornehmlich in Ballungsräumen, wo viele Pakete in eng abgegrenzten Gebieten ankommen sollen. Das macht die Zustellung leichter rentabel. Pakete an entlegenere Adressen, zum Beispiel auf dem Land, verschickt Amazon weiterhin mit bisherigen Lieferpartnern, die nicht nur mit weniger Sendungen kalkulieren müssen, sondern auch mit niedrigeren Gewinnspannen.

Noch dazu scheint Amazon dem Partner DHL in Deutschland auf einem Gebiet Konkurrenz machen zu wollen, das die Post-Tochter bislang weitgehend für sich hatte: die Zustellung von Sendungen per Packstation. Die „Süddeutsche Zeitung“ meldete im Februar zuerst, dass Amazon Mitarbeiter für den Aufbau eines Netzes eigener Zustellstationen in Deutschland sucht (so wie an dieser Stelle vor anderthalb Jahren prognostiziert.

In Großbritannien und Frankreich ist der Konzern schon einen Schritt weiter. Dort holen sich Kunden ihre Bestellungen bei „Wallace“, „Maya“ oder „Xavier“ ab – so heißen die gelben „Amazon Locker“, die anders als die DHL-Packstationen nicht nummeriert sind, sondern leicht zu merkende Namen haben.

Diese freundlich-gelbe Abholbox heißt "Finchley" und wartet am Parkplatz der gleichnamigen Londoner U-Bahn-Station darauf, geöffnet zu werden.

Diese freundlich-gelbe Abholbox heißt “Finchley” und wartet am Parkplatz der gleichnamigen Londoner U-Bahn-Station darauf, geöffnet zu werden. Foto: © Joel Chant/Amazon.co.uk Ltd./Transport for London

Die Wallaces, Mayas und Xaviers stehen in Supermärkten, Einkaufszentren, an Tankstellen und Kiosken – und sehen der DHL-Technik ziemlich ähnlich. Ihre Zahl ist bislang allerdings überschaubar: Gerade einmal 300 Amazon-Locker gibt es momentan in Großbritannien. (Die Zahl der Packstationen gab DHL zuletzt mit über 2.600 an.) Dennoch kommt die Amazon-Initiative für den deutschen Marktführer zur Unzeit: Die von DHL im vergangenen Frühjahr groß angekündigte Erweiterung der Zustellkapazitäten in Berlin ist stark in Verzögerung. Noch dazu dürfte die Verhandlungsposition des Unternehmens deutlich geschwächt werden, wenn es mit Amazon um die Stellplätze an zentralen Orten konkurriert, für die Eigentümer zum Teil üppige Mieten verlangen können.

Seit Monaten spekulieren die Medien, dass der Start von „Amazon Fresh“ in Deutschland (und Großbritannien) unmittelbar bevorstehe. „Fresh“ ist ein Frontalangriff auf die klassischen Supermärkte (beziehungsweise deren Lieferdienste). In den USA können Prime-Kunden schon seit 2007 frische Lebensmittel nach Hause bestellen, inklusive Obst, Gemüse, Fleisch, Käse und Tiefkühlwaren – allerdings nur in einigen wenigen Metropolen. Dort stellt Amazon die Lieferungen mit eigenen Wagen zu.

Bislang hat sich das Unternehmen noch nicht dazu geäußert, ob und wann „Fresh“ nach Deutschland kommt. In der Branche gilt München als Testort. Vor einem halben Jahr startete zunächst „Amazon Pantry“, bei dem sich deutsche Prime-Kunden ungekühlte Lebensmittel per Box zuschicken lassen können. Die Konkurrenz rechnet aber fest damit, dass es nicht dabei bleiben wird: Rewe warnt die Branche schon länger vor dem Druck, den Amazon mit einem eigenen Bringdienst für Lebensmittel auf den Markt ausüben könnte. Zumal Amazon auch mit sehr kleinen Margen klarkommt (wie sie im deutschen Lebensmittelhandel an der Tagesordnung sind). Jeff Bezos: „We’d rather have a very large customer base and low margins than a smaller customer base and higher margins.“

In Großbritannien hat sich Amazon gerade mit der Supermarktkette Morrisons zusammengeschlossen, um deren Eigenmarken an seine Kunden zu liefern.
Zumindest vorübergehend, denn:

Auch als Hersteller ist Amazon manchen Kunden ein Begriff: Seit Jahren werden unter der Eigenmarke „Amazon Basics“ zum Beispiel Batterien und Kabel verkauft. Im vergangenen Jahr meldete das „Wall Street Journal“, Amazon habe seine amerikanische Eigenmarke „Elements“ für Dutzende weitere Kategorien angemeldet, unter anderen Kaffee, Suppe, Nudeln, Tierfutter, Vitamine, Rasierklingen und Haushaltsprodukte. Mit Eigenmarken können Unternehmen höhere Gewinnmargen erzielen. Aber auch ziemlich baden gehen: den Versuch, Windeln unter dem Namen „Amazon Elements“ zu etablieren, brach der Konzern Anfang 2015 nach nicht einmal zwei Monaten wieder ab, weil sich Beschwerden der Kunden über die mangelnde Qualität gehäuft hatten.

So sehr sich Amazon auf den Ausbau seines Online-Geschäfts konzentriert: Die Eröffnung eigener Läden ist kein Tabu mehr. Seit November betreibt Amazon in Seattle seinen ersten Buchladen (ein weiterer ist für San Diego geplant). Dort stehen sämtliche Titel mit vollständig sichtbarem Cover im Regal, auf kleinen Tafeln darunter wird angezeigt, wie viele Sterne die Amazon.com-Nutzer dem Titel gegeben haben. Nur die aktuellen Preise müssen die Kunden per Smartphone selbst erfragen. (In den USA gilt keine Buchpreisbindung.)

Eine riesige Kette wird aus „Amazon Books“ aber zunächst nicht. Die Läden helfen Amazon, Präsenz zu zeigen, funktionieren aber auch als Abholstelle für Bestellungen (zum Beispiel statt eines „Amazon Locker“) oder mit Anschluss an ein kleines Lager in der Stadt, von dem Kunden, die es besonders eilig haben, beliefert werden. (In den USA kommt Amazon mit „Prime Now“ inzwischen zwei Stunden nach dem Kauf nach Hause, und demnächst auch in Deutschland, will die Wirtschaftswoche erfahren haben.)

Ob die Kunden all das wirklich brauchen, ist gar nicht so wichtig. Zumindest, wenn Amazon es erstmal geschafft hat, sie daran zu gewöhnen. Weil dann erstmal jemand anderes so verrückt sein muss, ein Unternehmen zu gründen und die jahrelang mühsam erwirtschafteten Gewinne fast vollständig zu reinvestieren, um das alles aufzuholen.


Aufmacherfoto: Amazon Deutschland.