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Leitlinie Kreuzschmerzen

Chronifizierung vermeiden

15.06.2016  09:05 Uhr

Von Ulrike Viegener / Kreuzschmerzen müssen differenziert behandelt werden. Zum einen gilt es, Erkrankungen wie Bandscheibenvorfälle von nicht spezifischen Kreuzschmerzen zu unterscheiden. Zum anderen müssen Patienten mit einem hohen Chronifizierungspotenzial identifiziert werden.

Bei der Behandlung von Kreuzschmerzen hat sich das diagnostische Konzept der sogenannten roten Fahnen (red flags) und gelben Fahnen (yellow flags) bewährt. Erstere markieren Symptome, die für eine gravierende, potenziell gefährliche Ursache sprechen. Letztere kennzeichnen Faktoren, die es wahrscheinlich machen, dass es im weiteren Verlauf zu einer Chronifizierung der Kreuzschmerzen kommt. In der Praxis habe sich dieses einfache und dabei leistungsstarke Konzept allerdings noch nicht flächendeckend durchgesetzt, beklagen die Autoren der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerzen.

Rote Fahnen sind Warnhinweise auf spezifische Ursachen mit oft dringendem Handlungsbedarf, speziell Bandscheibenvorfälle, Frakturen, Tumorerkrankungen oder Infektionen. Dazu zählen ein Ausstrahlen der Schmerzen in die unteren Extremitäten, Gefühlsstörungen, Lähmungen, Entleerungsstörungen von Blase und Mastdarm, Zunahme der Schmerzen in Rückenlage und starker nächtlicher Schmerz. Sind solche red flags nicht vorhanden, werden die Beschwerden als nicht spezifische Kreuzschmerzen klassifiziert.

 

Multimodale Therapie

 

Patienten mit akuten nicht spezifischen Kreuzschmerzen sollten grundsätzlich auf gelbe Fahnen, also Anzeichen eines erhöhten Chronifizierungsrisikos, untersucht werden. Das gilt vor allem dann, wenn die Beschwerden trotz adäquater Therapie länger als vier Wochen andauern. Bestehen sie länger als zwölf Wochen, liegt definitionsgemäß ein chronischer Kreuzschmerz vor.

 

Ziel muss sein, Patienten mit hohem Chronifizierungsrisiko frühzeitig einer multimodalen Therapie zuzuführen. In dieser Hinsicht können Beobachtungen des Apothekenteams hilfreich sein: Wenn jemand wiederholt nach rezeptfreien Arzneimitteln gegen Rückenschmerzen verlangt, sollte ihm ein Arztbesuch nahegelegt oder Kontakt zum Hausarzt aufgenommen werden.

 

Die multimodale Behandlung, die bei chronischen Kreuzschmerzen oder hohem Chronifizierungspotenzial zum Einsatz kommen sollte, bindet die Patienten aktiv ein. Entsprechende Konzepte sind gut validiert. Die Pa­tienten lernen, eine größtmögliche Mobilität und Selbstständigkeit zu bewahren oder zurückzugewinnen. Außerdem werden sie motiviert, Risiko­faktoren wie Adipositas abzubauen. Auch die psychosoziale Situa­tion der Betroffenen wird genauer unter die Lupe genommen, um negative Einflüsse zu korrigieren. Depressive Verstimmungen zum Beispiel schaukeln sich mit dem Schmerz wechselseitig auf, und auch ungünstige Bedingungen am Arbeitsplatz haben sich als Risikofaktor für eine Chronifizierung von Kreuzschmerzen erwiesen.

Was man sonst noch tun kann

Viele nicht medikamentöse Verfahren, die bei unspezifischen Kreuzschmerzen Anwendung finden, klassifiziert die Nationale Versorgungsleitlinie als nicht empfehlenswert. Eine positive Empfehlung bei chronischen Kreuzschmerzen wird lediglich ausgesprochen für:

 

  • Bewegungstherapie
  • Progressive Muskelrelaxation
  • Ergotherapeutische Maßnahmen
  • Rückenschule, die auf einem biopsychosozialen Ansatz beruht
  • Kognitive Verhaltenstherapie (auch bei subakutem
  • Kreuzschmerz)
  • Patientenedukation (auch bei akutem Kreuzschmerz)

 

Ausdrücklich nicht empfohlen werden:

 

  • Bettruhe
  • Interferenztherapie
  • Per- oder transkutane elektrische Nervenstimulation
  • Kurzwellendiathermie
  • Lasertherapie
  • Magnetfeldtherapie
  • Kältetherapie
  • Traktionsbehandlung
  • Therapeutischer Ultraschall
  • Akupunktur bei akutem Kreuzschmerz
  • Bewegungstherapie bei akutem Kreuzschmerz
  • Massage bei akutem Kreuzschmerz
  • Wärmetherapie bei chronischem Kreuzschmerz

Die medikamentöse Therapie bei nicht spezifischen Kreuzschmerzen ist der Leitlinie zufolge eine symptomatische Therapie, die die Voraussetzungen für mobilisierende Behandlungsmaßnahmen schaffen soll. Bei akuten Kreuzschmerzen ist die uneingeschränkte Wiederaufnahme der Alltagsaktivitäten das Ziel. Bei chronischen Kreuzschmerzen kommen Medikamente überbrückend zum Einsatz, bis das aktivierende Training seine Wirkung entfaltet. Medikamente – das wird in der Versorgungsleitlinie immer wieder betont – sollen bei Kreuzschmerzen langfristig sehr sparsam eingesetzt werden.

 

Die Auswahl der geeigneten Medikamente basiert auf einer ausführlichen Anamnese, bei der einerseits die Schmerzcharakteristika und andererseits medikamentöse Vorerfahrungen erfasst werden. Die Schmerzmittel sind grundsätzlich nach einem festen Zeitplan anzuwenden, sodass rund um die Uhr ausreichende Wirkspiegel im Blut vorhanden sind. Nach einigen Tagen sollen die Analgetika versuchsweise abgesetzt werden. Zur Objektivierung der Kreuzschmerzen sollen die visuelle Analogskala (VAS) oder die numerische Rating-Skala (NRS) verwendet werden.

 

Keine Erste-Wahl-Empfehlung

 

Je nach individueller Befundkonstellation können zur symptomatischen Therapie bei nicht spezifischen Kreuzschmerzen Paracetamol, nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) und COX-2-Hemmer zur Anwendung kommen. Aufgrund geringer Evidenz und möglicher Nebenwirkungen lasse sich eine bevorzugte Empfehlung nicht aussprechen, so die Leitlinie.

 

Paracetamol habe bei einem günstigeren Nebenwirkungsprofil eine weniger ausgeprägte analgetische Wirkung als NSAR, eine antiphlogistische Wirkkomponente besitzt Paracetamol nicht. Bei einem Behandlungsversuch mit Paracetamol sollten sich die Kreuzschmerzen innerhalb einer Woche bessern. Als maximale Tagesdosis gibt die Leitlinie 3 g Paracetamol an und bleibt damit unter den Empfehlungen der Fachinformation. Hintergrund ist, dass in Großbritannien und den USA eine unbeabsichtigte Paracetamol-Überdosierung die häufigste Ursache für akutes Leberversagen ist. Über dieses Risiko müssen Anwender unbedingt informiert werden, besonders dann, wenn sie Paracetamol ohne Rezept erwerben. Auch bei chronischen Kreuzschmerzen sollte Para­cetamol nur zeitlich begrenzt eingesetzt werden, etwa um Exazerbationen in den Griff zu bekommen.

Obwohl placebokontrollierte Studien eine Wirksamkeit von NSAR bei akuten und chronischen Kreuzschmerzen dokumentieren, sind viele Vertreter dieser Substanzklasse in dieser Indikation nicht zugelassen. Hinweise auf wesent­liche Wirkunterschiede zwischen verschiedenen Substanzen gebe es nicht. Was die Risikoprofile anbetrifft, existieren dagegen nachweislich deutliche substanzspezifische Unterschiede. Angesichts des »erheblichen Nebenwirkungs- und Interaktionspotenzials« der NSAR, so heißt es in der Leitlinie weiter, muss vor ihrem Einsatz vor allem das gastrointestinale und kardiovaskuläre Risikoprofil des Patienten ermittelt werden. Die Therapiedauer sollte in jedem Fall begrenzt sein und zum Schutz vor gastrointestinalen Nebenwirkungen sei die Gabe eines Protonenpumpenhemmers zu erwägen. Die Kombination von tNSAR mit Paracetamol ist mit einem weiteren Anstieg des gastrointestinalen Blutungsrisikos verbunden. Von Piroxicam wird wegen des ungünstigen Nebenwirkungsprofils abgeraten.

 

COX-2-Hemmer sind bei Kreuzschmerzen nicht zugelassen und können allenfalls off label zur Anwendung kommen, wenn es keine therapeutische Alternative gibt. Es sei davon auszugehen, dass der Anstieg des Herzinfarktrisikos nicht allein das vom Markt genommene Rofecoxib betrifft, sondern ein Klasseneffekt der COX-2-Hemmer und auch der tNSAR ist. Dies sei bei der Therapieentscheidung sehr kritisch abzuwägen, so die Leitlinie.

 

Klares Nein zu Flupirtin

 

Flupirtin ist dagegen bei akuten und chronischen Schmerzen der Halte- und Bewegungsmuskulatur zugelassen. Zur Wirksamkeit des Analgetikums mit muskelrelaxierenden Eigenschaften liege allerdings nur eine – methodisch schlechte – kontrollierte Studie vor. Dieser fehlende Wirksamkeitsnachweis führte gemeinsam mit dem ungünstigen Nebenwirkungsprofil (unter anderem Lebertoxizität, Müdigkeit, eingeschränkte Fahrtüchtigkeit) zu der Einschätzung: Flupirtin soll zur Behandlung von akutem und chronischem nicht spezifischem Kreuzschmerz nicht angewendet werden.

 

Die Indikation für den Einsatz zentraler Muskelrelaxanzien, etwa Benzodiazepine, ist laut der Leit­linie sehr kritisch zu stellen. Im Fall eines Versagens nicht medikamen­töser Maßnahmen und nicht opioider Analgetika könne ein Therapieversuch mit Myotonolytika erwogen werden. Sie sollten aber nicht länger als zwei Wochen angewendet werden, da es sehr schnell zur Entwicklung einer Abhängigkeit kommen kann.

 

Opioide als Ultima Ratio

 

Die Datenlage zur Wirksamkeit von Opioiden bei Kreuzschmerzen ist unzureichend. Laut der Leitlinie kommt der Einsatz von Opioiden nur in Betracht, wenn die Schmerzen mit anderen Analgetika nicht zu kontrollieren sind oder wenn diese nicht vertragen werden. Die Effizienz der Opioid-Therapie sei zeitnah zu überprüfen, bei akutem Kreuzschmerz spätestens nach vier Wochen, bei chronischem Kreuzschmerz spätestens nach drei Monaten. Tritt die gewünschte Schmerzlinderung oder Funktionsverbesserung nicht ein, ist ein Fortsetzen der Opioidtherapie kontra­indiziert.

 

Falls Opiode zum Einsatz kommen, sollen lang wirksame Substanzen zu festen Zeiten appliziert werden. Starke Opioide sollten in dieser Indikation mit Zurückhaltung und nur in Kooperation mit einem erfahrenen Schmertherapeuten angewendet werden. Eine Präferenz einzelner Opioide oder Darreichungsformen lasse sich durch klinische Studien nicht rechtfertigen. Bei akutem und subakutem Kreuzschmerz sollten aufgrund der schlechten Steuerbarkeit keine transdermalen Opioide eingesetzt werden. /

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