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Politik machen wie ein Unternehmer Warum ich mein nächstes Start-up mit Angela Merkel gründen würde

Von Florian Nöll
Kanzlerin Merkel: Aus der Abhängigkeit befreit - sie macht Politik wie eine Unternehmerin

Kanzlerin Merkel: Aus der Abhängigkeit befreit - sie macht Politik wie eine Unternehmerin

Foto: FABRIZIO BENSCH/ REUTERS

Um es gleich vorweg zu sagen: Nein, ich bin nicht Gründungsmitglied im Angela-Merkel-Fanclub. 2005 wurde sie ohne meine Stimme Kanzlerin, ihre Interpretation der sozialen Marktwirtschaft hat für mich bis heute zu wenig Marktwirtschaft und ihr häufig an Umfrageergebnissen ausgerichteter Kompass hat mir nie besonders imponiert. Noch in der Bankenkrise war ich schwer irritiert, über ihr Eingeständnis, im Nebel der Krise "auf Sicht" zu fahren. Möglicherweise habe ich sie damals falsch eingeschätzt.

Denn zur Mitte ihrer dritten Amtszeit erlebe ich eine neue Kanzlerin. Sie hat eine Mission, von der sie sich nicht abbringen lässt. Sie scheint sich aus jeglicher Abhängigkeit befreit zu haben, sie macht Politik wie eine Unternehmerin. Mit dieser Angela Merkel würde ich gerne mein nächstes Start-up gründen.

Die Kanzlerin steht seit Monaten wegen ihrer Flüchtlingspolitik im Sturm, aber sie hält Kurs. Wie heißt es so schön: "Bei schönem Wetter kann jeder segeln. Erst bei Sturm zeigt sich der wahre Kapitän." Ich denke, dass Angela Merkel eine gute Unternehmerin wäre. Wohl mehr Familienunternehmerin als Start-up-Gründerin, aber Unternehmerin. Denn wie unsere Familienunternehmen steht sie für starke Werte: für Tradition und Fortschritt, für wirtschaftliche Stärke und soziale Verantwortung.

Soziale Verantwortung für Europas Ehre

Florian Nöll

Florian Nöll  hat seit seiner Schulzeit mehrere Unternehmen in der Digitalen Wirtschaft gegründet. Als Vorsitzender im Bundesverband Deutsche Startups e.V. , stv. Vorsitzender des European Startup Network, des Beirats "Junge Digitale Wirtschaft" beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie engagiert er sich für einen Dialog zwischen Start-ups und der Politik.

Beginnen wir mit der Ursache des Sturms, der Flüchtlingskrise, und der Frage, wie viel soziale Verantwortung wir uns leisten können und wollen. Die Kanzlerin wird bis heute dafür kritisiert, dass sie sich am 5. September für die Einreise der in Budapest festsitzenden Flüchtlinge entschied. Im Übrigen dieselbe Kanzlerin, die Wochen zuvor als unmenschlich tituliert wurde, weil sie einem in Deutschland lebenden Mädchen aus Palästina erklärte, dass es möglichweise nicht in Deutschland bleiben könne.

Am Ende erntete sie für diese Entscheidung Kritik im eigenen Land - Deutschland und Europa hingegen erhielten Anerkennung überall auf der Welt. Wolfgang Schäuble brachte es jüngst auf den Punkt: "Deutschland hat Europas Ehre in der Flüchtlingskrise auch ein Stück weit gerettet." War das nicht vielmehr eine ungewollte Image-Kampagne für Deutschland, so wie auch das heftig kritisierte Selfie?

Findet ein Kriegsflüchtling aus Syrien Angela Merkel und Deutschland sympathisch, wenn er ein solches Selfie sieht? Wahrscheinlich ja. Verlässt er deshalb seine Heimat und begibt sich auf eine lebensbedrohliche Reise? Sicher nicht. Das zu glauben und die Kanzlerin oder die Medien für den Flüchtlingsstrom verantwortlich zu machen, ist schlicht realitätsfremd.

Findet ein hochqualifizierter Software-Entwickler aus Brasilien Angela Merkel und Deutschland sympathisch, wenn er ein solches Selfie sieht? Wahrscheinlich ebenso. Entscheidet er sich deshalb auf der Suche nach einem Job im Ausland vielleicht eher für Deutschland als zum Beispiel für das Silicon Valley? Ich halte das für möglich. Jeder dritte Mitarbeiter in Berlins Start-ups kommt schon heute nicht aus Deutschland. Dies ist ein Erfolgsfaktor der europäischen Startup-Hauptstadt, den es weiter zu stärken gilt

Ohne Europa keine Start-ups

Deutschland ist für die europäische Wirtschaft das, was der Mittelstand und unsere Familienunternehmen für die deutsche Wirtschaft sind: das Rückgrat. Aber so sehr wir als Nation Europa wirtschaftlich stärken, so sehr profitieren wir auch von diesem Europa. Deshalb gilt es, ein starkes Europa zu bewahren, um unsere eigene wirtschaftliche Stärke zu bewahren. Nur auf Basis wirtschaftlicher Stärke können wir unsere Werte bewahren, sozial verantwortlich handeln und in Fortschritt investieren. Das gilt für Unternehmer wie Politiker gleichermaßen.

Es ist nicht zu leugnen, dass uns der Flüchtlingszustrom vor eine gewaltige Herausforderung stellt. Und es ist auch nicht zu übersehen, dass uns die Situation in Teilen überfordert. Aber es ist mehr eine gesellschaftliche als eine wirtschaftliche Herausforderung. Wenn die Bertelsmann-Stiftung vorrechnet, dass eine dauerhafte Wiedereinführung von Kontrollen an den EU-Binnengrenzen zu Wachstumseinbußen von mindestens 77 Milliarden Euro bis 2025 führt, ist das ein starkes Argument, eine andere Lösung für eine Reduzierung der Flüchtlingsströme zu finden.

Natürlich belastet uns die Flüchtlingskrise auch finanziell. Für 2017 werden die Kosten aktuell auf 9 Milliarden Euro geschätzt. Aber diese Kosten haben wir durch unsere Fehler in der Vergangenheit verursacht, als wir es zugelassen haben, dass sich wegen der dramatischen humanitären Bedingungen in den Flüchtlingslagern Nordafrikas eine Millionen Menschen lieber auf den Fußweg nach Mitteleuropa gemacht haben statt dort zu bleiben. Die nächsten 9 Milliarden Euro sollten wir in Maßnahmen investieren, die den Flüchtlingsstrom im Mittelmeerraum stoppen. Die ersten 9 Milliarden können wir als zweites großes Konjunkturprogramm nach der Abwrackprämie verbuchen.

Machen wir uns nichts vor: Nur ein vereintes Europa ist für unsere Handelspartner in West und Ost langfristig ein relevanter Partner. Wir haben doch nicht Banken-, Finanz- und Griechenlandkrise überstanden, um jetzt wegen zwei Millionen Flüchtlingen, die auf 500 Millionen Einwohner in der Eurozone kommen, Konkurs anzumelden. Es gilt, jetzt erst recht den Turnaround zu schaffen und ein neues Geschäftsmodell für Europa zu finden. Wenn wir das schaffen, bewahren wir nicht nur, was wir schon haben. Eine vitale Startup- und Digitalindustrie gibt es nur mit einem vereinten Europa, das zudem nach den physischen Grenzen auch die virtuellen Grenzen einreißen muss. Nicht umgekehrt.

In Generationen denken, nicht in Wahlsonntagen

Angela Merkel ist mehr Europa- als Wirtschaftspolitikerin. Deshalb will sie die europäische Idee nicht aufgeben. Nicht in wenigen Wochen einreißen, was ihre Vorgänger in mehr als 50 Jahren aufgebaut haben. Adenauer und de Gaulle haben mehr als 100 Stunden verhandelt, bevor sie 1963 ihre Unterschriften unter den Élysée-Vertrag setzten. Nach Ihnen haben europäische Politiker unzählbare Stunden investiert, um die Europäische Union zu konstruieren, mit heute unverzichtbaren Meilensteinen wie der Einigung auf einen gemeinsamen Binnenmarkt im Jahr 1986. Hier ist wieder der Bezugspunkt zu Familienunternehmern, die eben auch nicht in Quartalsberichten oder Wahlsonntagen denken, sondern in Generationen.

Wenn also Merkel der Meinung ist, dass sie eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise erreichen kann, dann ist das 100, 500 und auch 1000 Stunden Verhandlungen wert. Dabei gilt, was schon Adenauer wusste: "Wenn die anderen glauben, man sei am Ende, muss man erst so richtig anfangen." In der Zwischenzeit sind wir gefragt, sie nicht dafür zu kritisieren, dass es lange dauert oder sie mit in Deutschland unbeliebten Regierungschefs wie Erdogan verhandelt, sondern unseren Beitrag zur Bewältigung des Zustroms zu leisten. Und das solange es geht.

"Solange es geht" ist dabei wörtlich zu nehmen: Es geht, solange unsere Wirtschaft und Gesellschaft den Zustrom absorbieren können. Dabei sollten wir uns vor Augen führen, was wir bereits geleistet haben und noch immer leisten. Binnen weniger Monate eine Millionen Menschen aufzunehmen, kann nicht ohne Probleme bleiben. Über diese Probleme kann man jammern, wie wir es am Liebsten tun, oder einfach einmal stolz sein auf diese Leistung.

Es gibt keine festgeschriebene Deadline, bis wann deutlich weniger Flüchtlinge in Deutschland ankommen oder Verwaltung und Organisation besser funktionieren müssen. Und der 13. März ist erst recht keine solche Deadline. Der 13. März ist nur ein gewöhnlicher Sonntag, an dem in drei Bundesländern Landtagswahlen stattfinden. Und diese drei Länder werden anschließend gewohnt gut oder schlecht regiert. Die europäische Idee aber bekommt so schnell keine zweite Chance. Zwei Millionen Flüchtlinge auf 500 Millionen EU-Bürger sind zu schaffen, zwei Millionen auf 80 Millionen Bundesbürger wären, jenseits der Betrachtung des Leistbaren, Ausdruck unterlassener Solidarität innerhalb der EU und schon deshalb kaum vermittelbar.

Wir sind ein Einwanderungsland

Aber verkörpert die Kanzlerin auch Fortschritt und Innovation, so wie es Familienunternehmen und noch mehr Startups tun? Für eine Antwort auf diese Frage muss man die dramatischen Veränderungen in der europäischen Politik zur Kenntnis nehmen. Ein europäischer Staat nach dem anderen betont seine nationalen Interessen und stellt diese über die europäische Solidarität. Die Menschen in unseren Nachbarländern wählen Parteien und Politiker, die diese nationale Rückbesinnung propagieren. Mit Blick auf die Budapest-Entscheidung vom 5. September ist es wahrscheinlich, dass Merkel die Solidarität innerhalb der Europäischen Union falsch eingeschätzt hat. Und dennoch stellt sie sich der neuen Situation und sich selbst an die Spitze der Bewegung. Sie ist nach wie vor die unangefochtene Führungsfigur innerhalb der EU. Doch jetzt gilt es, diese Führungsstärke auch nach innen zu entfalten.

Die Bundesrepublik, die seit den 1960er Jahren mehr als 800.000 türkische Gastarbeiter plus ihre Familien aufgenommen hat, muss spätestens jetzt ihren Status als Einwanderungsland anerkennen. Zu diesem Erkenntnisgewinn wird es noch während Merkels Kanzlerschaft kommen. Es ist an ihr, diesen Prozess aktiv zu gestalten und gerade jetzt, nicht trotz sondern wegen der Flüchtlingskrise, ein Einwanderungsgesetz auf den Weg zu bringen. Ein Einwanderungsgesetz, das aufgebaut ist wie eine gute Stellenausschreibung: Wer sind wir? Wen suchen wir? Was bieten wir? Wie sind die Konditionen? Ein solches Einwanderungsgesetz sendet ein klares Signal an die dringend benötigten Fachkräfte, aber genauso an die Flüchtlinge. Letzteren sagt es: "Wir können euch vielleicht temporär Schutz gewähren, aber auf Dauer könnt ihr nicht in Deutschland bleiben.". Das Einwanderungsgesetz muss Hand in Hand gehen mit einem Masterplan zur Integration. Zu Integration derer, die zu uns kommen sollen, derer, die schon da sind, und derer ,die noch kommen werden, egal ob wir das wollen oder nicht.

Ein Bundes-Startup gegen die Verwaltungskrise

Der innenpolitische Gestaltungsauftrag geht noch viel weiter. Wenn die Flüchtlingskrise eines gezeigt hat, dann dass wir zu wenig in die Führungskompetenz und IT-Infrastruktur unserer Verwaltung investiert haben. Insgeheim haben wir geahnt, dass es um die Leistungsfähigkeit unserer Verwaltung nicht gut bestellt ist. Die Flüchtlingskrise hat das System unter Volllast gesetzt - und es an vielen Stellen kollabieren lassen. Der Flüchtlingskrise folgte die Verwaltungskrise. Das Land der Ingenieure kann im Jahr 2016 nicht die Fingerabdrücke von ankommenden Flüchtlingen mit Tinte und Stempelkissen erfassen und scheitert an einer sinnvollen Vergabe von Wartenummern im Berliner Lageso.

Nein, dafür können wir Angela Merkel nicht auch noch verantwortlich machen. Bei genauem Hinsehen fällt vielmehr auf, dass die Verantwortungsstrukturen zum Beispiel am Berliner Lageso so aufgebaut sind, dass am Ende niemand verantwortlich ist. Oder alle. Jetzt ist es an der Kanzlerin, diese Zustände nicht einfach hinzunehmen, sondern eine grundlegende Modernisierung der Verwaltung anzustoßen. US-Präsident Obama hat vorgemacht, wie es geht. Er hat exzellente Mitarbeiter aus dem Silicon Valley nach Washington geholt, damit dieses "Tech Corp" die Verwaltung ins digitale Zeitalter hievt. Eine solche schnelle Eingreiftruppe hätten wir in den vergangenen Monaten auch gebrauchen können.

Frau Bundeskanzlerin, es ist an der Zeit das erste Bundes-Startup zu gründen. Die deutsche Startup-Industrie würde Sie dabei unterstützen: aus sozialer Verantwortung, für Europa, aus wirtschaftlichem Interesse und für den Fortschritt.

Florian Nöll ist Mitglied der CDU und der MeinungsMacher von manager-magazin.de. Seine Meinung gibt nicht zwingend die Meinung der gesamten Redaktion wieder. Er kandidiert als Wahlkreiskandidat für die Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin.