Aus dem Innenleben einer öffentlichen Institution

Cord Aschenbrenner hat ein überaus lesenswertes Buch über eine deutschbaltische Pfarrer-Dynastie geschrieben, das zugleich eine Religionsgeschichte des Luthertums in Estland ist.

Drucken
Ein Gemälde hält die Taufe in einem evangelischen Pfarrhaus fest. (Bild: Imago)

Ein Gemälde hält die Taufe in einem evangelischen Pfarrhaus fest. (Bild: Imago)

Friedrich Wilhelm Graf ⋅ In 27 glänzend geschriebenen Kapiteln legt der den Lesern dieser Zeitung gut bekannte Journalist und Historiker Cord Aschenbrenner eine Geschichte des evangelischen Pfarrhauses vor, die ihresgleichen sucht. Quellennah und einfühlsam beschreibt der Enkel eines evangelischen Pfarrers die Geschichte der deutschbaltischen Pfarrer-Dynastie Hoerschelmann, deren Söhne über neun Generationen hinweg, seit dem 18. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart hinein, evangelische Theologie studierten und dann ihr Leben in den Dienst ihrer Kirchengemeinden stellten.

Zur eigenartigen Lebensform des evangelischen Pfarrhauses sind schon viele kulturhistorische Bücher geschrieben worden, in denen es oft um die grossen, bisweilen gestörten Pastorensöhne wie Gotthold Ephraim Lessing, Jakob Michael Reinhold Lenz, Matthias Claudius, Friedrich Nietzsche, Albert Schweitzer und Gottfried Benn ging. Aber nirgends sind die inneren Widersprüche des für die Gemeinde offenen, kaum Privatheit zulassenden Pfarrhauses so dicht und sensibel erfasst worden wie in Aschenbrenners klug komponierter Familiengeschichte der Hoerschelmanns.

Komplexes Anforderungsprofil

Der Pfarrer war und ist Amtsperson für die Gemeinde. Er soll vorbildhaft ein christliches Leben führen, das Evangelium verkünden, ein guter, weiser und diskreter Seelsorger für die Mühseligen und Beladenen sein, Kinder und Jugendliche unterrichten, Kranke und Alte stützen und stärken, Sterbende aus dem Leben hinaus begleiten und Trauernde trösten. Das droht nicht nur ihn, sondern auch die Pfarrfrau an seiner Seite und die Kinder zu überfordern. Das protestantische Pfarrhaus ist seit dem 17. Jahrhundert von einer elementaren Paradoxie geprägt: Einerseits ist der Pfarrer dank seinem Studium, der eigenen Bibliothek und der immer neuen Arbeit am Wort ein Repräsentant von Bildung und oft auch musikalischer Kultur. So wurde das evangelische Pfarrhaus in den deutschsprachigen Ländern, aber auch in Skandinavien und im Baltikum zu einer der wichtigsten Institutionen des modernen Bildungsbürgertums.

Andererseits ist im Pfarrhaus die bürgerliche Trennung von «privat» und «öffentlich» aufgehoben. Fortwährend werden der Pfarrer und seine Familie von der Gemeinde beobachtet und mit der Erwartung einer besonders tugendsamen religiös-sittlichen Lebensführung konfrontiert. Der Pfarrgarten neben der Kirche muss gepflegt sein und das grosse, gastfreundliche Haus sauber und aufgeräumt. Die Kinder sollen höflich zu den Leuten, besser als die anderen in der Schule, überhaupt besonders folgsam, redlich und korrekt gekleidet sein. Auch die Pfarrfrau ist eine öffentliche Person, die in der Gemeinde vielfältige Aufgaben zu übernehmen hat. Auch hier lässt sich zwischen kirchlicher Rolle und Person nicht unterscheiden.

Aschenbrenners Quellen sind die schriftlichen Hinterlassenschaften der Familie Hoerschelmann aus drei Jahrhunderten: Briefe, Zeitungsartikel, Predigten, Gedichte, Selbstzeugnisse und Erinnerungen an die Vorfahren. Auch hat der Autor zahlreiche Interviews mit einigen noch lebenden Mitgliedern der traditionsbewussten Familie geführt. So kann er in versunkene, weithin unbekannte deutschbaltische, estnische Lebenswelten führen – etwa in die ruhmreiche Theologische Fakultät in Dorpat, die geschlossenen Kreise der deutschen adeligen Oberschicht mit ihrer Arroganz gegenüber den estnischen Bauern und einfachen Leuten, auch die weltabgeschiedenen Pastorate auf dem Land mit ihren grossen Ackerflächen. Aschenbrenner zeichnet die Studiengänge der auch an deutschen Universitäten, vor allem in Jena, studierenden Hoerschelmann-Söhne nach, begleitet die Vikare und Pfarrer auf ihren Visitationsreisen und beschreibt die Studierstuben, in denen die Kanzelredner ihre Predigten schrieben.

Die ökonomische Lage der Pfarrer Hoerschelmann war meistens prekär. Denn trotz knappen Mitteln wurde von ihnen erwartet, ein gastliches Haus zu führen, und auch für die Erziehung und Bildung der Kinder mussten mehr Mittel als sonst üblich aufgewendet werden. Oft konnten die sehr armen Bauern die Amtshandlungen, zu denen der Pfarrer herbeieilte, nicht bezahlen, und dies bedeutete, dass dieser kein Geld hatte, um für seine Kinder einen Russischlehrer zu bezahlen – obwohl Russischkenntnisse im Zarenreich, zu dem Estland gehörte, zum Besuch des Gymnasiums zwingend vorausgesetzt waren. Es war trotz sehr viel Hausmusik und hoher literarischer Kultur im deutschbaltischen Pfarrhaus oft ein sehr harter Lebenskampf zu führen, und die Aufgabe, sowohl Pfarrer der deutschen Adeligen und wohlhabenden Bürger als auch ein guter Hirte für die Menschen aus der estnischen Unterschicht zu sein, führte in mancherlei Konflikte.

Für viele Deutsche, gerade für die Adeligen unter ihnen, war es undenkbar, gemeinsam mit den Esten das Abendmahl zu feiern; gemeinsame Gottesdienste hatte es nur kurze Zeit in pietistisch geprägten Gemeinden und während der Erweckungsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts gegeben. Gerade an den hohen kirchlichen Feiertagen fanden eigene deutschsprachige Gottesdienste statt. Durch die kirchliche Frömmigkeitskultur wurden die ethnischen, ständischen und tiefen sozialen Unterschiede zwischen den Deutschen und den Esten verfestigt. Manche der Pfarrer Hoerschelmann litten darunter, und deshalb gründeten sie trotz massiven Widerständen der einflussreichen Leute aus der deutschen Oberschicht auf dem Lande für estnische Bauernkinder Schulen, um ihnen den Weg zu einem Beruf in der Stadt zu bahnen.

Frömmigkeitsgeschichte

Aschenbrenner schreibt so keineswegs nur die Geschichte einer deutschbaltischen protestantischen Pfarrer-Dynastie. Gerade indem er in ganz dichter Beschreibung auch vermeintliche Äusserlichkeiten wie Tischsitten, Kleidungsart und Begrüssungsformen nachzeichnet, die Katechismusprüfungen und Sonntagsgottesdienste schildert sowie die politischen Hoffnungen und Konflikte seiner Pastoren erkundet, schreibt er zugleich eine Art Frömmigkeitsgeschichte des deutschbaltischen, lutherisch geprägten Protestantismus, die aus dem Pfarrhaus in die so unterschiedlichen Lebenswelten der Gemeindeglieder führt. Auch die elementaren politischen Wandlungsprozesse nach der russischen Revolution, der Flucht vieler Deutscher zurück ins Reich und dem Angriff des nationalsozialistischen Deutschland auf die Sowjetunion werden kontextsensibel dargestellt. – Cord Aschenbrenner hat ein wunderbar zu lesendes Buch geschrieben, das als Familiengeschichte deutschbaltischer protestantischer Pfarrer zugleich eine Religionsgeschichte des Luthertums in Estland ist.

Das historische Buch: Cord Aschenbrenner: Das evangelische Pfarrhaus. 300 Jahre Glaube, Geist und Macht: Eine Familiengeschichte. Siedler, München 2015. 367 S., Fr. 36.90.