Auf der SXSW in Austin, Texas, nahmen Twitter und Foursquare ihren Anfang. Doch vor allem ist die wohl weltgrößte Digitalkonferenz gut für den Blick über den Tellerrand und für die Suche nach den Trends von Morgen. Die größte globale Interactive-Konferenz bietet zudem eine gewaltige Bandbreite der Themen. Für etailment sagt Stephan Ritter, Director Client Services bei SapientNitro Deutschland, welche der dort diskutierten Entwicklungen für den E-Commerce den Ton angeben. 


Die SXSW ist ein echter ‚Place To Be’ für Unternehmer, Markenlenker, Wissenschaftler und Agenturvordenker: Die SXSW ist inzwischen eine Veranstaltung, die versucht, mit den jeweils weltweit besten Vorträgen, Workshops und Panels der heutigen Komplexität digitaler Kontexte gerecht zu werden. Und das gelingt. Rund 35.000 Teilnehmer haben in diesem Jahr das breit gefächerte Angebot angenommen. Die Bandbreite der Themen ist enorm: Besuchen beispielsweise ein UX-Experte, ein Entwickler und ein eCommerce-Berater die Konferenz, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich die Zeitpläne nur ein bis zweimal überschneiden – und das in vier vollgepackten Tagen

Mein Überblick über die Commerce-relevanten Tendenzen auf der SXSW 2015 ist auch von einem gewissen ‚Fear of missing out’-Schmerz gezeichnet: Gerne hätte ich ganztägig in einem Scrum-Team ein echtes Auto zusammengebaut, UX-Choreographie-Parallelen mit Disney-Größen entwickelt oder die „Immersive Game of Thrones-Experience“ decodiert.

Beim Thema Commerce gibt es gute Nachrichten: Die Tendenz, Retail Stores als physikalische Touchpoints zu sehen, setzt sich weiter fort. Auch für E-Commerce Pure Player.Der Fokus jedoch ist neu. Den bringt Julie Bornstein, CMO von Sephora’s  – für viele der aktuell führende Omnichannel-Retailer – auf den Punkt: „Basically Amazon changed the game because you now need a real reason for spending time in retail stores. It has to be fun now.“

Speziell bei den Millennials sind Shopping Malls mittlerweile total abgemeldet. Dies stellt aktuell eine große Herausforderung gerade für den amerikanischen Handel dar. Angesagte Marken verlassen die Konsumtempel und suchen wieder passende und profilschärfende Locations in den Innenstädten. Hier steht auch längst nicht mehr nur der Abverkauf im Vordergrund: Die ersten Marken finanzieren ihre physischen Touchpoint bereits teilweise aus Marketing- und Kundenbindungsbudgets. Ihr Erfolg muss folglich auch in anderen Metriken gemessen werden, in der Bedeutung der Touchpoints in der Customer Journey.

Alles dreht sich um das perfekte Erlebnis

Neben der wichtigen Rolle der lokalen Service- und Fulfillment-Station dreht sich thematisch alles um das perfekte Erlebnis: mühelos, personalisiert und praktisch muss es sein. Deshalb sind Themen wie Virtual- bzw. Augmented Reality nach wie vor voll im Trend. Bereichert um Hologramme und VR-Brillen steht uns hier noch einiges bevor. Allerdings fehlen noch immer Standards zur Entwicklung oder gar Plattformlösungen.

Zum Entertainment am POS muss auch die Musik stimmen

Das altbekannte Shazam knüpft daran an und bietet nun per Musikerkennung nicht nur den gespielten Titel an, sondern liefert per unhörbar eingestreuter Outlet-ID auch den Coupon und Follow-up Optionen. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt spannend als günstigere Alternative zum Beacon-Einsatz. Denn durch hohe Installationskosten, konzeptionelle Komplexität und geringe Bluetooth-Aktivierung hat sich das Interesse an Beacons bei den Kunden merklich abgekühlt.

Die optimale Experience, die konkrete Bedürfnisse befriedigt, erfordert Kanal-, Geräte-, und Plattformübergreifende Konzepte. Der Retailer muss heutzutage die komplexe Rolle des „Seamless Curators“ einnehmen – dies muss allerdings erstmal gelernt sein. Gleiches gilt für den Umgang mit entsprechendem Content. Das Panel „Data Driven Content Strategy vs. Editorial Gut Instinct“ diskutierte dieses Thema auf hohem Niveau. Ergebnis: Die großen Pure Player ändern offensichtlich aktuell ihre Denke: “E-Commerce was so dependent on paid marketing that the focus was not on the customer experience.” Das sagt Katrina Lake, CEO Stitch Fix. Das ist erfreulich.

Paid Marketing verliert an Bedeutung

Schneller als vermutet wird Paid Marketing zunehmend irrelevant – auch und besonders in Hinblick auf Google. Zu viele Marken und Retailer haben in der Vergangenheit den Fehler gemacht, ihre Ergebnisse laufend durch bezahlte Suchergebnis-Verbesserung zu pushen. 

Druckbetankung in Sachen Innovationen. Impression von der SXSW (Foto: Stephan Ritter)
Druckbetankung in Sachen Innovationen. Impression von der SXSW (Foto: Stephan Ritter)

Besonders im Fashionbereich wird es nun immer wichtiger zu verstehen, wer das Shoppingverhalten beeinflusst. Hier zeigt sich ein klarer Trend: Weg Magazinen, hin zu „akzeptierten Kuratoren“ wie Fashion Bloggern und vor allem ‚Word of mouth’. Dazu zählenhoch qualitativer Content, Empfehlungen und Informationen auf Social Media-Basis.

Weiterhin neu zu beobachten war, dass Plattformen wie Instagram und Pinterest international aufrüsten: Sie etablieren neben E-Commerce- Schnittstellen auch Präsenzen in den wichtigsten europäischen Ländern, um vor Ort und mit Partnerschaften die lokalen Interessen besser zu verstehen und ihre Plattformen darauf auszurichten. Erleben wir hier das Uber-Phänomen der Commerce-Sphäre? Man darf gespannt sein.

Entscheidend für den Erfolg und um all diese Aspekte sinnvoll einsetzen zu können ist die intelligente Nutzung von Daten. Big Data ist kein Buzzword mehr sondern alltägliche Realität – darüber herrscht Einigkeit auf allen Ebenen. Aus deutscher Perspektive ist der Reifegrad einiger US-amerikanischer Unternehmen in diesem Bereich schwindelerregend. Genau wie die Entschlossenheit, mit der kurzfristig auf Analytics-Basis unglaubliche Budgetentscheidungen getroffen werden – und dies sehr erfolgreich.

Fazit: Gefühlt ist der Abstand zum europäischen E-Commerce weiter gewachsen. Die kompromisslose Experience- und Daten-Zentrik der großen US-Player bleibt beeindruckend. Die Verbindung zwischen Content und Commerce, physischer und digitaler Welt ist nicht Vision sondern bereits umgesetzt. Und die Erfolge sind belegbar.