cocheroProlog: Franz Cochero hatte vor langer Zeit den Obststand seines Vaters übernommen. Die Lage war perfekt. Am Ausgang des Bahnhofs, am Anfang einer beliebten Einkaufsstraße. Der Stand von ihm und seinem Vater stand für Obst von hoher Qualität, persönliche Beratung und die Fähigkeit neue Geschmackstrends frühzeitig zu erkennen. Sie waren am Ort die ersten mit Kiwis aus Südamerika, und die waren auch noch preisgünstig. An das Pressefeedback kann sich Franz noch sehr gut erinnern. Eigentlich lief es sehr gut, Franz plante sogar einen zweiten Obststand am anderen Ende der Einkaufsstraße, aber recht plötzlich wuchs ein starker Wettbewerb heran. Die Familie Barato eröffnete auf einen Schlag zehn Stände in der Stadt. Kaum Beratung, aber eine ordentliche Produktqualität. Franz merke das sofort an seinem Umsatz, aber er fand Mittel und Wege sich zu behaupten. Recht lange konnte er mit cleveren Aktionen wie „Banane des Tages“ oder „Kauf 3, Zahl 4“ die Aufmerksamkeit der Kunden zurückerobern. Am Ende kam es dann doch auf die Persönlichkeit von Franz an, die seine Kunden so schätzten. Wirklich ungemütlich wurde es erst mit dem Internet. Die Plattform iFruta.com hatte ihren Kunden Obst Abonnements angeboten, und die Preise lagen deutlich unter denen von Franz. Sogar die Baratos konnten da nicht mithalten. iFruta machte in den ersten Jahren erhebliche Verluste, argumentierte aber damit, dass bei ausreichendem Wachstum die Gewinnzone automatisch erreicht wird. Franz und die Baratos mussten damals herzlich über diese Einschätzung lachen, aber ein Obstdigitalisierungsberater hatte Franz dann doch empfohlen seine Kunden ebenfalls online anzusprechen. Es hieß damals: „Franz, da sind deine Kunden. Du musst auch dort sein!“. Der Onlineshop von Franz hat allerdings nie funktioniert, trotz Usability Optimierung und diversen Experimenten mit Abos, Facebook und Pinterest. Er hatte sogar extra einen Mitarbeiter dafür eingestellt, einen unerfahrenen Schüler zwar, aber immerhin. Bei den Baratos hat es allerdings auch nicht funktioniert. Zurückblickend hat Franz das einzig Richtige gemacht. Er hat sich dem localfrutas Programm von iFruta.com angeschlossen, eine Möglichkeit an seinem Stand Abos von iFruta zu verkaufen und als lokale Abholstation zu fungieren. Diese Kooperation hat über einen Zeitraum von fast drei Jahren seinen Umsatz stark gesteigert – einmal ist er sogar in die Zentrale von iFruta eingeladen worden. Danach begann eine sehr hektische Phase. Neben iFruta sind neue Anbieter durch, gestützt durch externe Investoren, in den Markt eingetreten und haben die Preise auf ein für Franz existenzbedrohendes Niveau gebracht. Einige Früchte musste Franz sogar direkt von iFruta einkaufen, um nicht aus dem localfrutas Programm geworfen zu werden. Parallel dazu hatten die Baratos eine neue Abteilung mit dem Namen „Digital Nuts“ aufgemacht und dafür extra einen Topmanger von iFruta abeworben, der u.a. für den Austausch des Logos auf der iFruta.com Webseite verantwortlich war – weltweit natürlich. Der zerstörerische Wettbewerb geht nun seit sechs Jahren. Die Baratos haben den Geschäftsbetrieb eingestellt und im letzten Jahr hat auch Franz seinen Stand aufgegeben. Er arbeitet nun an der Zucht neuer, winterfester Erdbeersorten. Damit soll es bald wieder losgehen. Auf die Frage hin, was er rückblickend anders gemacht hätte, sagt er heute nur, dass er früher hätte aufhören müssen. Hat er Recht?

Der lange Herbst der Händler

In der Geschichte von Franz erkennt der ein oder andere Leser sicherlich Parallelen zu realen Herausforderungen von Händlern. Der Fall des Obsthändlers ist beliebig gewählt. Es hätte auch mit einem Versicherungsunternehmen, einem Autohaus oder jedem anderen Element in der Handelskette funktioniert. Ich sehe mich regelmäßig mit der Frage zur richtigen Strategie konfrontiert und das impliziert meistens eine langfristige Perspektive die mit einem risikoaversen Investitionsmuster zu erreichen sein muss. Klar, online soll es schon irgendwie sein, aber um Gottes willen nicht kopflos und wild. Diese Anforderung kann ich bestens verstehen, aber ich glaube zunehmend, dass wir es mit ganz neuen Wachstums- und Produktstrategien zu tun haben, denen klassische Unternehmen nicht mehr gewachsen sind. In einer Capital Kolumne kommt Bernd Ziesmer zu der folgenden, bemerkenswerten Beobachtung:

Während der etablierte Versandhändler in guter konservativer Familientradition streng auf die Erträge achtet, investieren die Internet-Firmen ohne Rücksicht auf Verluste. Der große Vorteil: Die neuen Unternehmen  finanzieren sich über Risikokapital und die Börse, die alten über thesaurierte Gewinne. Die Werte der Vergangenheit – Vorsicht, Solidität und selbstfinanziertes Wachstum – schlagen plötzlich in einen Wettbewerbsnachteil um

An dem „selbstfinanzierten Wachstum“ haben alle betroffenen Unternehmen am meisten zu knabbern und versuchen sich genau an diese Strategie zu klammern. Das führt zu einer aktionistischen Digitalisierungskaskade, die über kurz oder lang handlungsunfähig macht.

  1. Optimieren des „alten“ Geschäftsmodells mit digitalen Elementen
  2. Noch mehr optimieren, jetzt aber mit Methoden von Google und Facebook
  3. Intern hat es nicht geklappt – Aufbau eines neuen Bereichs (aka interne grüne Wiese)
  4. Anstellung eines digitalen Profis – idealerweise jemand, der schon vor 10 Jahren schon mal bei Yahoo oder so gearbeitet hat
  5. Grüne Wiese Ansatz klappt nicht – also Investments in digitale Geschäftsmodelle die bestehende Assets sinnvoll ergänzen
  6. Erkennen, dass nur sehr radikale, nach vorne gerichtete Ansätze funktionieren und intern dafür ein Momentum schaffen
  7. Kein Geld mehr da, zu spät

Der Blick nach vorne wird zwar von allen Unternehmensführern gefordert, aber in der Regel schauen sie nach vorne, um Optionen für das bestehende (alte) Geschäft zu finden. Im Brand Eins Interview zwischen Jochen Krisch und Gerrit Heinemann klang das so:

Krisch zu Heinemann: Ich interessiere mich für den Handel der Zukunft und Sie sich für die Zukunft des Handels. Das sind sehr unterschiedliche Dinge.

Solche Diskussionen lassen sich täglich beobachten. Aktuell auch im Blog von Jochen, in dem er ein paar Beiträge zum bevorstehenden windeln.de Börsengang geschrieben hat. In mittlerweile über 20 Kommentaren werden die beiden Perspektiven deutlich. Die eine Seite kann sich nicht vorstellen, dass dieses Modell genug Profitabilität abwerfen kann. Die andere Seite wiederum sagt, dass man das Wachstum nur lange genug finanzieren müsste und dann kann Windeln.de zu einem Mrd. Unternehmen wachsen. Wer hat Recht?

windeln-finanzen

Es gibt keine endgültige Wahrheit bei dieser Frage. Das Marktumfeld ist gerade so stark im Umbruch, dass klassische Bewertungsmaßstäbe kaum anwendbar sind. Der größte Irrtum aus meiner Sicht liegt in der Adaptionsgeschwindigkeit von neuen Strategien und Methoden. Ich erlebe täglich, dass große Unternehmen den Lean Startup Methoden von Eric Ries nacheifern wollen, aber dafür auf Vorgehensmodelle von 2008-2012 zurückgreifen. Die zu dieser Zeit populären SEO/SEM Strategien für den Aufbau neuer Handelsmodellen mögen aus Sicht von Karstadt & Co. sehr modern erscheinen, aber sie haben mit aktuell angewendeten Methoden führender Digitalunternehmen (Startups) wenig zu tun. Viel schlimmer noch, diese damals so angesagten Methoden sind heute teilweise schädlich für den Geschäftserfolg. Zudem haben sich die Anforderungen an ein MVP in fast allen Branchen erheblich weiterentwickelt.  Aber wer soll das in Geschäftsführungen sehen und entscheiden können, wenn niemand die operative Erfahrung dafür vorweisen kann?

Peter Diamandis hat kürzlich in einem Vortrag beim World Economic Forum eine Vogelperspektive auf diese Entwicklungen vorgestellt. „Exponential Technologies“ Bis vor wenigen Jahren konnte man das noch als Zukunftsvisionen „abtun“, aber aus meiner Sicht befinden wir uns zur Zeit mitten in diesen Entwicklungen. Lineare Strategien müssten, wenn meine Einschätzung stimmt, über kurz oder lang also immer scheitern.

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Epilog

Ich bin Kunde, Mitarbeiter und Konsument wie die meisten anderen Leser dieses Blogs auch. Ich habe naturgemäß auch ein Interesse daran, dass meine gewohnten und für positiv empfundenen Strukturen stabil bleiben. Ich komme aus einer Welt in der im Rahmen von Strategieprojekten immer, wirklich immer, die Frage nach den (Digital) Chancen/Optionen für das jeweilige Unternehmen gestellt wurden. „Welche Wachstumsmöglichkeiten haben wir? Wie können wir das für uns nutzen?“ Mir fällt es immer schwerer diese Frage zu beantworten – Gafa sei Dank. Ich glaube das liegt aber vor allem daran, dass die Frage falsch bzw. falsch gestellt ist. Man sollte zuerst unabhängig von den eigenen Assets die Zukunftsfrage stellen und sich wie ein Gründer fragen: Wer profitiert? Welches Geschäftsmodell? Wie lange? Erst dann stellt sich die Frage, ob die eigenen Assets ein Werttreiber für die gefunden Optionen darstellen. In vielen Fällen werden sie das nicht.

Diese Effekte sind für mich mittlerweile so zentral, dass es mir oft sehr schwerfällt Erfolge von Unternehmen zu honorieren, unabhängig davon wie die Erfolge erreicht worden sind. Ich interessiere mich nur noch dafür, ob in den entsprechenden Unternehmen Strukturen, Momentum und Kapital vorhanden ist, um auf die Herausforderungen der nächsten Jahre antworten zu können. Wer den Markt prägt, kann gewinnen. Wer geprägt wird, verliert. Was bringen schon X Milliarden Umsatz, wenn die Strategie nach vorne fehlt? Wem helfen 10 Millionen Kunden in der Datenbank, wenn sich diese doch innerhalb von Minuten für den nächstbesseren Anbieter entscheiden können? Ist das radikal? Ja. Ist das negativ? Nein, es ist eher ein Aufruf historische Modelle, Märkte und Abhängigkeiten hinter sich zu lassen. Nach vorne schauen, schneller werden, technisch Handlungshoheit gewinnen, konsequenter entscheiden usw….

In meinem letzten größeren Artikel zu Amazon bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Amazon erst der Anfang ist. Das sollte man sich vor dem Hintergrund der gezeigten exponentiellen Effekte im Video noch mal deutlich machen, aber zur Beruhigung aller Angsthasen können wir auch festhalten: Franz hat nichts falsch gemacht.

Das E-Commerce BuchMehr zu Franz, E-Commerce Strategien und zur Bewertung diverser digitaler Geschäftsmodelle finden sich im Juni 2015 erschienenen „Das E-Commerce-Buch“ von Holger Schneider und Alexander Graf. Bereits nach kurzer Zeit führt das Buch diverse Bestseller Listen bei Amazon an und wurde im Schnitt mit 5 Sternen bewertet. 39,90€ Euro, 305 Seiten, 20 Jahre E-Commerce Know How.

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