Philosoph Byung-Chul Han: "Der Neoliberalismus vereinzelt uns."

Foto: Merve Verlag

STANDARD: Der politische Trend geht in Richtung mehr Transparenz. Auch in Österreich fordern Politiker wie Experten schärfere Transparenzregelungen. Warum sehen Sie diese Entwicklungen skeptisch?

Han: "Skeptisch" ist kein richtiger Ausdruck. Ich analysiere die Entwicklung vor allem medientheoretisch. Die Transparenz ist ein Wesenszug der digitalen Kommunikation. Diese erleichtert die Informationsbeschaffung. Dadurch verliert das Vertrauen als soziale Praxis, die auch ohne Information über andere den Aufbau einer positiven Beziehung möglich macht, immer mehr an Bedeutung. Wo Informationen sehr leicht zu beschaffen sind, schaltet das soziale System vom Vertrauen auf Kontrolle und Transparenz um. Es folgt der Effizienzlogik. Die Transparenzgesellschaft weist eine strukturelle Nähe zur Kontrollgesellschaft auf.

STANDARD: Aber haben die Bürger nicht ein Recht auf Transparenz?

Han: Darum geht es in meiner Argumentation nicht. Heute werden vor allem die Bürger selbst transparent gemacht. Wir installieren immer mehr Überwachungskameras. Die digitale Vernetzung macht uns noch transparenter. Die gegenseitige Durchleuchtung ist das Prinzip der Transparenzgesellschaft. Oben kontrolliert unten. Unten kontrolliert oben. Da gibt es keinen Raum fürs Vertrauen. Man sagt, Transparenz schafft Vertrauen. In Wirklichkeit schafft sie das Vertrauen ab.

STANDARD: Wie verändert sich Politik, wenn sie völlig einsehbar ist?

Han: Wird alles sofort öffentlich, so wird die Politik unausweichlich kurzatmig, kurzfristig und verdünnt sich zur Geschwätzigkeit. Die totale Transparenz zwingt der politischen Kommunikation eine Zeitlichkeit auf, die eine langsame, langfristige Planung unmöglich macht.

STANDARD: Aber Transparenz verhindert doch Machtmissbrauch und Korruption?

Han: Es entstehen neue, hermetisch abgeriegelte Machträume. Seit der Finanzkrise ist der Anteil des sogenannten Dark Trade oder Dark Pool ganz sprunghaft angestiegen. Börsenmakler verlassen einfach die Börse. Die Transaktionen werden an der Börse vorbei getätigt. Dark Pools unterliegen nicht den Regeln und der Aufsicht der europäischen Börsen.

STANDARD: Österreich liegt im Wahrnehmungsindex von Transparency International auf Platz 25 von insgesamt 176 Staaten. Das von Ihnen beschworene und durch Transparenz abgelöste Vertrauen reicht offensichtlich nicht.

Han: Kein Land wird sich dem Transparenzzwang entziehen können, der immer totalitärere Züge bekommt. Wir werden dementsprechend immer mehr Kontrolle ausgesetzt werden. Die Transparenz ist doppelbödig.

STANDARD: Inwiefern wird Kontrolle als Transparenz verkauft?

Han: Wir speisen das digitale Panoptikum freiwillig mit Informationen, indem wir uns selbst enthüllen und ausstellen in den sozialen Medien. In der freiwilligen Selbstausleuchtung fallen die pornografische Zurschaustellung der Privatsphäre und die panoptische Kontrolle zusammen. Darin besteht ihre Effizienz. Die Kontrollgesellschaft vollendet sich dort, wo ihre Bewohner sich nicht durch einen äußeren Zwang, sondern aus einem selbstgenerierten Bedürfnis heraus mitteilen.

STANDARD: Sie sagen auch, heute gibt es nichts anderes mehr als die Arbeitszeit. Über Jahrhunderte kannte unsere Gesellschaft beispielsweise noch den sogenannten "blauen Montag". Seit wann gibt es keine andere Zeit mehr - und wie kommen wir da wieder heraus?

Han: Der Neoliberalismus setzt auf die Selbstausbeutung. Man wähnt sich zwar in Freiheit, aber in Wirklichkeit beuten wir uns freiwillig und leidenschaftlich aus. Wir begreifen es als Freiheit, uns ständig zu optimieren. "Blaumachen" passt nicht mehr in diese Logik der Selbstausbeutung und Selbstoptimierung, der wir uns freiwillig unterwerfen.

STANDARD: Sie sprechen sich für eine "Zeitrevolution" aus, welche Arbeitszeit wieder in "gute, gemeinsame Zeit" verwandelt.

Han: Indem wir entdecken, dass es andere Zeitformen gibt, die sich nicht beschleunigen lassen und die sich der Logik der Arbeit und Effizienz entziehen. Die Zeit, die ich dem anderen gebe, ist keine Arbeitszeit. Sie ist die Gabe. Die Zeit des Spiels lässt sich auch nicht beschleunigen.

STANDARD: Im Kinderbuch "Momo" von Michael Ende sind es die "grauen Herren", die den Menschen die Zeit stehlen. Es ist ein Mädchen, das die Uhr anhält und den Menschen die Zeit zurückgibt.

Han: "Momo" ist ein sehr schönes, philosophisches Buch über die Zeit. Die "grauen Herren" zwingen die Menschen, Zeit zu sparen. Sie arbeiten nun hektisch. Sie leben zwar im Bewusstsein, Zeit zu sparen. In Wirklichkeit verlieren sie Zeit. Die "grauen Herren" repräsentieren unser heutiges System der Ausbeutung. Momo tritt als Retterin der Zeit auf. Sie hört den anderen zu, indem sie ihnen Zeit gibt. Durch reines Zuhören schlichtet sie den Streit. Sie praktiziert die Zeit als Gabe. Und sie spielt gerne, erfindet fantasievolle Spiele. Die Zeit des Anderen und die Zeit des Spiels retten die Menschen aus der Zeitkrise. Das ist die philosophische Botschaft des Märchens.

STANDARD: Aber wer ist die "unsichtbare Hand", die uns dieses Leben in der, wie Sie sagen, "paradoxen Freiheit" aufzwingt?

Han: Unsere Gesellschaft wird offenbar vom Unbewussten gesteuert. Die Freiheit des Neoliberalismus ist in Wirklichkeit ein Instrument, um uns noch effizienter auszubeuten. Das System strebt eine höhere Effizienz an. Ab einem bestimmten Produktionsniveau stößt die Fremdausbeutung an ihre Grenze. Da schaltet das System von der Fremdausbeutung auf die Selbstausbeutung, von der Disziplinargesellschaft auf die Leistungsgesellschaft, vom Sollen aufs Können - "Yes we can" -, um mehr Effizienz, mehr Produktivität zu generieren. Was wir als Freiheit wahrnehmen, ist ein neuer Zwang zur Erhöhung der Produktivität.

STANDARD: Ist die Vereinzelung des Individuums durch den Neoliberalismus, die Sie kritisieren, das, was auf gesellschaftlicher Ebene die Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre von der heutigen Krise unterscheidet? Damals gab es Klassenkampf und politische Solidarität. Heute scheint der Begriff der Solidarität in der Politik antiquiert.

Han: Heute ist jeder ein Unternehmer seiner selbst, der sich in ständiger Konkurrenz mit anderen befindet. Da gibt es keine Solidarität. Der Neoliberalismus vereinzelt uns, um mehr Produktivität zu generieren. Da es kein "Wir" gibt, kann es keine gemeinsame Handlung mehr geben, die die Gesellschaft ändern würde.

STANDARD: Sie haben kürzlich bei einem Vortrag im Rahmen des Festivals der Wiener Kunsthalle "What Would Thomas Bernhard Do?" Ihren Kollegen Peter Sloterdijk kritisiert und gesagt, seine Ausführungen zur Krise in Griechenland seien "purer Rassismus". Wieso?

Han: Ich habe zunächst darauf hingewiesen, dass Sloterdijks bekanntes Buch "Du mußt dein Leben ändern" uns von der Notwendigkeit ablenkt, die Gesellschaft ändern zu müssen. "Du musst dein Leben ändern" schwimmt in der Logik der neoliberalen Selbstoptimierung. "Du musst deine Gesellschaft ändern!" sollte unsere Devise heißen. Dann habe ich auf ein "Handelsblatt"-Interview mit Sloterdijk hingewiesen, in dem er die griechische Finanzkrise auf die "orientalische Mentalität" der Griechen zurückführt, die durch die vierhundertjährige türkische Besatzung entstanden sei. Dort setzt Sloterdijk die Türken mit Privatismus, Schlaumeierei und Staatsferne gleich. In Wirklichkeit hat die Türkei sogar weniger Schulden als Deutschland.

STANDARD: Wir müssen nicht unser Leben ändern, sondern die Gesellschaft, das System selbst, sagen Sie. Gibt es also kein richtiges Leben im falschen? Wie lösen Sie diese Frage?

Han: Ich arbeite nicht viel. Ich denke viel. Das ist etwas ganz anderes. Wir müssen mehr denken. Heute denken wir zu wenig. Nur im Denken gibt es die Möglichkeit der Veränderung. (Peter Mayr, DER STANDARD, 27.5.2013)